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Kapitel
13 - „Unerreichbar“
Ich kam für
das Mittagessen nach Unten, aber ich bin etwas zu früh dran. Nachdem
wir heute Morgen respektvoll aus der Kantine verjagt wurden, weil wir
beim Aufräumen im Weg waren, habe ich den kurzen Vormittag auf
meinem Zimmer verbracht. Durch das verspätete Schlafengehen gestern,
bin ich heute später aufgestanden, was meinen Tagesrhythmus etwas
durcheinander gebracht hat. Das leichte Gefühl von Trägheit und das
Bedürfnis sich in eine Warme Decke einzurollen stört ein wenig beim
Denken. [Vielleicht würde mich etwas frische Luft wieder in die Spur
bringen …] Ich trete an die große transparente Tür heran, die
sich lautlos öffnet und mir den weg nach draußen freigibt.
Heute ist es
kühler als sonst, der späte Oktober macht sich langsam bemerkbar.
Nachts hat es wohl gefroren, an den schattigen Stellen ist der Frost
noch immer zu sehen. Ein leichter Geruch von Winter liegt in der Luft
… und ein starker Geruch von Pizza, das Mittagessen wird wohl nicht
mehr lange auf sich warten lassen.
Ein Stück weiter,
beim Eingang zum Labor sind Männer in blauen Anzügen damit
beschäftigt schweres Gerät von einem Lastwagen abzuladen und in das
große Gebäude, den Haupt-Forschungskomplex zu tragen. Auf der
Ladefläche des LKW's stehen einige recht große Gebilde, gründlich
in Schutzfolie verpackt und mit Gurten gesichert. Sogar aus dieser
Entfernung kann man erkennen, um was es sich handelt. [Die neuen
Sitze.] Die Sessel, die wir zur Zeit benutzen, sind nicht für einen
Langzeittest ausgelegt. Mit diesen neuen Prototypen, die vermutlich
eigens für uns produziert wurden, wird es uns ermöglicht, die zwei
Monate ununterbrochen in der Simulation zu bleiben. Ich denke lieber
nicht darüber nach, welche Zusatz-Funktionen sie im Vergleich zu den
alten Modellen haben … Einige Anzugträger besprechen daneben
offenbar etwas Wichtiges, während sie den Arbeitern beiläufig
zuschauen.
Es dauert einige
Momente bis ich ihn bemerke, aber da sitzt ein Mann abseits des
Getümmels. Er hockt völlig unbeweglich einfach da, mitten auf der
Wiese, als wäre er teil der Landschaft. [... die gleiche
Haltung...]. Es ist Tamirat. Er sagte kürzlich, dass er die Jagt
vermisst, hat es etwas damit zu tun? Geduldig zu sitzen und zu
warten, bewegungslos, um die Beute nicht zu verschrecken? Mit der
Umgebung verschmelzen, oder so was in der Art? Ich schaue mich um,
aber ich sehe nichts was der Beschreibung „Beute“ gerecht werden
würde. Wie er selbst es vor einiger Zeit andeutete: es gibt hier
keine Tiere.
Mir gehen die
Besonderheiten seines Verhaltens der letzten Tage nochmal durch den
Kopf: Der starre Blick, weil er das Sehen einfach nicht mehr gewohnt
ist. Die mechanisch wirkenden Bewegungen, weil er verlernt hat sich
optisch zu orientieren. Die hockende Haltung, aus Nostalgie an die
Zeiten, in denen er noch gejagt hat … Wenn man das alles bedenkt,
dann wirkt die schaurige Situation, die ich mit ihm in der Simulation
hatte, gar nicht mehr so unheimlich.
Allerdings ist es
unerwartet ihn außerhalb der VR so vorzufinden, so kenne ich ihn
bisher überhaupt nicht. Es ist, als währen es zwei verschiedene
Personen. Welcher war jetzt der Echte Tamirat? [Ich denke, ich könnte
ihn einfach fragen.] Und mir fällt da auch gerade eine passende Art
ein um das zu tun .
Ich versuche mich
nicht anzuschleichen, während ich von hinten an ihn herantrete. Das
Grass unter meinen Füssen raschelt leise bei jedem Schritt, als
würde es flüstern. Er hat meine Anwesenheit sicher bemerkt, auch
wenn er es nicht zeigt. Er weiß womöglich sogar schon wer ich bin,
er hat mich auch früher schon an den Schritten erkannt.
Nicolas:
„Bist du wieder Tamirat? ...“
Ich verzichte
bewusst auf eine Begrüßung, um meinem Auftreten eine Theatralische
Note zu verleihen.
Nicolas:
„... Oder bist du noch der Fremde?
Da ich seitlich
hinter ihm stehe, kann ich sein Gesicht nicht richtig sehen, nur das
sich sein Mundwinkel jetzt leicht noch oben verzieht ... Und dass er
seine Brille nicht trägt. Dabei wird mir klar: [Ich hab noch nie
seine Augen gesehen …] zumindest nicht die echten.
Es vergehen einige
Momente bevor er antwortet.
Tamirat:
„Frag mich das, an einem anderen Tag ...“
Eine unerwartete
Antwort. Es klingt fast so als hätte er eine Identitätskrise. [Das
ist in seiner Lage wohl auch nicht verwunderlich.] Durch den Verlust
seiner Sehkraft war er gezwungen ein anderes Leben zu führen, als er
es gewohnt war. Er musste praktisch ein anderer Mensch werden. Es ist
wohl nur natürlich das er sich nun selbst fragt, wer er eigentlich
ist.
Nicolas:
„Habe ich gestört?“
Tamirat:
„Nein, ich habe nur nachgedacht.“
[Aber heißt das
nicht, das ich gestört habe? Beim Nachdenken?]
Tamirat:
Der Fremde, den du gestern kennenlerntest … der ist auch mir fremd.
Ich habe ihn einmal gekannt, vor langer Zeit. Einen jungen Mann, der
sich im Laufen mit einer Gazelle messen konnte. Einen Burschen, der
ein Rudel Kojoten mit einem Stab und dem Messer seines Vaters
verjagte. Er konnte ein verwundetes Tier 3 Tage lang verfolgen und …
eine Staubwolke am Horizont sehen, ehe es jemand anders konnte.“
In seinen Worten
ist ein Hauch Nostalgie und Sehnsucht. Kaum zu bemerken.
Tamirat:
„Und gestern, da war er wieder da. Sein Geist kam im Traum zu
seinem Körper zurück, und verlangte nach ihm! Doch er war nicht
mehr derselbe. Er lief durch den Wald, doch seine Füße gehorchten
ihm nicht. Er hat gejagt, aber seine Beute entwischte ihm. Ist der
Mann aus meinem Traum ein Betrüger? Oder bin ich es, der ihn
betrogen hat?“
Seine Worte sind
weniger obskur, als es den Anschein hat, aber um das zu merken musste
man Tamirat kennen.
Er redet davon ob
sein früheres Ich (bevor er blind wurde) in seiner Erinnerung
strahlender ist, als er es wirklich war, oder ob er sich hätte mehr
Mühe geben sollen, um es zu erhalten.
Nicolas:
„Ganz ehrlich? Ich denke ihr seid beide echt und ihr müsstet da
irgend einen Kompromiss finden. Aber das sind nur leicht gesagte
Worte. Außer dir kann da niemand eine echte Lösung finden.“
Er hebt die
Sonnenbrille auf, die vor ihm im feuchten Grass liegt und zieht sie
an während er aufsteht. Als er sich schließlich zu mir umdreht, bin
ich für einen Moment geschockt. Er hat die ganze Zeit über, mit so
einer ruhigen, fast monotonen Stimme gesprochen, das ich nie erwartet
hätte, dass er [ … weint …] … Kein Heulen, kein Schluchzen …
Nur kleine, im Sonnenlicht schimmernde Tränen, die ihm über die
faltigen Wangen rollen.
Ich habe ihn noch
nie weinen gesehen. Genaugenommen, habe ich ihn noch nie traurig
gesehen. Er muss wirklich viel Leid erfahren haben, dass er gelernt
hat seinen Frust und Schmerz so zu verbergen.
[Ich hätte es
merken müssen …]
Das Mittagessen
war unspektakulär. Martha und die Anderen haben darüber
philosophiert, was sie in den zwei Online-Monaten alles machen
wollen. Aber ich habe den Eindruck, dass ihnen nicht so ganz bewusst
ist, dass das ein Rollenspiel ist und ihre Möglichkeiten daher
begrenzt sind.
Für heute
Nachmittag sind abschließende psychologische Gespräche angesetzt
und ich überlege, während ich mich im Speisesaal umschaue, wie ich
mir bis dahin die Zeit vertreibe. Die Hälfte der Anwesenden hier
gehört zu den Testern. Wenn für uns die Abschlussphase beginnt wird
es hier weitaus weniger gesellig zugehen, als jetzt.
Ein Mann mit
abgetragener Jeans-Weste und einem dürftig gepflegten drei-Tage-Bart
tritt an mich heran. Die ebenso abgetragene Army-Cap, die er wirklich
überall trägt, war glaube ich, vor ein paar Jahren in Monde.
Nicolas:
„Hi, Harry!“
„Herman
Raummacher“, den wir alle der Einfachheit halber nur „Harry“
nennen, ist ein Deutscher Reporter. Oder besser gesagt, ein
Weltreporter mit deutscher Abstammung. Da er weder das Oktoberfest
mit uns feiern wollte, noch Bier mag, habe ich Schwierigkeiten, ihn
als Deutschen zu sehen. Ich schätze, wenn man so viel unterwegs ist,
wie er, dann verliert man mit der Zeit sein Nationalgefühl. Da er
bekannt dafür ist, dass er über die weltweite, technische
Entwicklung recherchiert und berichtet, erlaubte man ihm, im Rahmen
des Testprogramms, einen unvoreingenommenen Blick hinter die
Entwicklungskulisse des „Vivo“ Projektes zu werfen. Eine üppige
Spende seines Verlags hat dabei sicher auch eine Rolle gespielt.
Harry:
„Hallo Nicolas!“
Nicolas:
„Danke.“
Harry:
„Hm? …“
Ich lächle ihn
an.
Nicolas:
„Das du mich nicht mehr „Mr. Nakamura“ nennst.“
Harry:
„Du hast mich darum gebeten.“
Nicolas:
„Ja ungefähr fünfzehn mal ...“
Harry:
„Ja-ja ...“
Wir lachen
entspannt.
Harry:
„Wann hast du deinen Termin, beim Onkel Doctor?“
Nicolas:
„Bei der Psychologin? Um halb vier, warum?“
Harry:
„Ich um vier … Lust, vorher noch Vicky zu besuchen?“
Er spricht von
„Victoria Bennett“. Geboren und aufgewachsen in Kalifornien, ist
sie das Kind von reichen Unternehmern. Eine hübsche, Intelligente
und gebildete junge Frau die … seit 15 Jahren von der Hüfte
abwärts gelähmt ist. Ein Reitunfall.
Ihre Eltern haben
freundschaftliche Verbindungen zu den oberen Etagen von „Hellman
Interactive“, wodurch Vicky einen Platz unter den Testern bekam.
Aufgrund ihrer speziellen Lage nehmen Tamirat und sie an mehr Tests
teil, als der Rest von uns, weswegen wir sie nicht oft sehen. Und
wenn sie frei ist, kommt sie nicht oft raus.
Nicolas:
„Hm … sicher, warum nicht.“
Ich willige etwas
unbehaglich ein. Nicht weil ich Vicky nicht mag, ich finde sie sogar
sehr nett. Aber ich fühle mich in der Gegenwart von Leuten, mit
einer Behinderung, einfach nicht wohl. Bei Tamirat brauchte ich auch
eine gewisse Zeit um mich daran zu gewöhnen.
Harry:
„Gut, sie erwartet uns schon!“
Nicolas:
„Was? Du hast ihr schon gesagt, das wir kommen?“
Er lacht wieder.
Nicolas:
„Was wäre wenn ich nein gesagt hätte?“
Harry:
„Dann hätte ich dich überredet!“
Nicolas:
„So einfach ja?“
Harry:
„Ach komm, lassen wir sie nicht warten. Sie wird sich freuen!“
von uns Allen hat
Harry den meisten Kontakt zu ihr. Das liegt daran das sie sich schon
von früher kennen. Er erzählte mal wie sie sich in einer
Chinesischen Forschungseinrichtung für Nervenregeneration
kennengelernt hatten. Er war als Journalist dort und sie als
Patientin. Damals hatte er ein Interview mit ihr genommen, das später
sogar veröffentlicht wurde. Jetzt wo sie sich zum zweiten Mal unter
den gleichen Umständen treffen … ich weiß nicht ob so was wie
Schicksal existiert, aber sie verbringen viel zeit miteinander.
Wir betreten
mit Harry die Eingangshalle des Hauptgebäudes, wo helle Aufregung
herrscht. Die neue CD-Einrichtung steht zum Teil noch im
Eingangsbereich, der jetzt nicht mehr so geräumig wirkt, wie
gewohnt. Kaum haben sich die Türen hinter uns geschlossen, sehe ich
durch die großen Fenster, wie draußen ein weiterer LKW vorfährt.
[Noch eine Ladung …]
Nicolas:
„Der Test fängt schon morgen an. Die Techniker werden 'ne harte
Nacht haben, das alles bis dahin zu installieren.“
Harry:
„Ja … Ich würde mich nicht wundern, wenn der Testbeginn
verschoben wird.“
Wir treten an die
Sicherheitskontrolle, wo ein allzu bekanntes Schnauzbärtides Gesicht
uns fragend anblickt. Harry holt seinen Ausweis aus der Tasche,
während er ihn begrüßt.
Harry:
„Hallo Dave, wir wollten zu Vicky ...“
Ich will auch
meinen Ausweis rausholen, aber die Antwort des Wachmanns lässt mich
zweifeln ob das notwendig ist.
Wachmann:
„Tut mir leid, Mr Raummacher, aber ich habe Anweisungen niemanden
einzulassen, der nicht zum Personal gehört.“
[Er wird uns nicht
durchlassen.]
Herry:
„Was? Wieso?!“
Wachmann:
„Solange die neue Technik hier installiert wird, darf nur das
Personal rein.“
Herry:
„Ach komm schon, Dave! Wir sind doch keine Penner, die um Almosen
betteln!“
Herrys Stimme wird
energischer und auch etwas lauter. Er muss auch verstanden haben des
es keinen Zweck hat, aber er will wohl nicht Kampflos aufgeben.
Herry:
„Eure Technik interessiert uns nicht!“
[Als Reporter bist
du der letzte, dem man das glauben würde … ]
Wachmann:
„Tut mir leid Mr Raummacher, aber ich habe meine Anweisungen.“
Nicolas:
„David ... du bist ein Paragraphenreiter!“
Wachmann:
„Ich hänge eben an meinem Job!“
Diesem Argument
können wir Beide nichts Entgegensetzen. Herry lässt resigniert die
Schulter hängen.
Herry:
„Und wie lange wird das alles hier andauern?“
Er deutet auf die
deplatziert wirkenden, halb ausgepackten Anlagen.
Wachmann:
„Kann ich nicht sagen …“
Harry:
„Na super … ich hasse es, einer Frau absagen zu müssen …“
Ich verstehe was
er versucht. Da sein Ansturm kläglich scheiterte, will er ihn jetzt
zumindest mit einem schlechten Gewissen Strafen … Aber ich
bezweifle, dass es bei David funktioniert.
Wachmann:
„Und jetzt verlassen sie bitte den Eingangsbereich, sie stehen
sonst im Weg.“
[Tun wir nicht.]
Nicolas:
„Mach dir nichts draus, wir sehen sie ja spätestens morgen in der
VR.“
Harry:
„Wir wollten uns aber vorher nochmal treffen …“
Herry atmet mit
ungespielter Enttäuschung auf, und wir schlendern in Richtung
Ausgang.
[Er muss sie echt
gern haben …]
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