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Kapitel
4 - "Neue Wege"
Mein Magen meldet sich mit einem leichten Hunger-Gefühl, aber ich
kann mich einfach nicht von der Lektüre losreißen. Die Nachricht,
die Sammy gestern Abend bekommen hat, war ein Memo, das an alle
Tester raus ging und uns darüber in Kenntnis setzte, dass sowohl ein
fester Termin für den Start des Betatests fest steht, als auch dass
man sich auf ein Environment geeinigt hatte, in dem wir die zwei
Monate verbringen werden:
["Vortex"]
...
So
heißt die Virtuelle Welt, die man für uns ausgewählt hat. Ein
Fantasy - "Massive Multiplayer Virtual Role Playing Game"
kurz "MMVRPG". Ein Rollenspiel, in dem milionen von Menschen gleichzeitig eingeloggt sein können und zusammen, oder auch gegeneinander spielen können.
Offen gestanden habe ich wenig Erfahrung mit dieser Art von
Freizeitbeschäftigung. Ich meine, ich habe Online Rollenspiele
gespielt ... Zuhause ... am Computer, und es macht mir auch Spaß.
Aber Hauseigenes "CYD" Equipment, das können sich nur die
reichsten leisten, und eine Stunde im CYD-Studio kostet so viel wie
ein normaler Mensch in 5 Stunden verdient.
Die
Leute, die VRPGs, oder neuerdings auch MMVRPGs Spielen, sagen dass
man normales Zocken nicht mit "CYD" vergleichen kann.
Abgesehen
von einem Flug durch die Baumkronen des Brasilianischen Dschungels
und einem Tauchgang im karibischen Meer, hatte ich noch keine
Cyber-Diving Erlebnisse. Zumindest nicht vor meiner Zeit hier bei
"Hellman Interactive". Und die Dives hier waren bislang nur
selten aufregend.
Dass
für den Betatest des U.T.O.P.I.A.-Systems sofort so etwas Komplexes
ausgesucht wird, finde ich erstaunlich. Meine Vernunft sagt mir, dass
da vermutlich die PR-Abteilung wieder aus Marketing-Gründen etwas
versprochen hat, ohne mit den Entwicklern Rücksprache zu halten, und
dass am Ende eh wieder alles anders kommt, als erwartet. Aber das
brennende Gefühl der Vorfreude ist größer, als die Besorgnis und
ich stelle meine Hoffnung über meinen Realismus ... eine seltene
Entscheidung!
Jetzt
sitze ich schon seit Stunden in meinem Quartier, blättere durch die
digitalen Seiten der Präsentation, verschlinge die Tutorials und
schaue mir Werbevideos an ... Ich bin überwältigt! Die Entwickler
von “Vortex” versprechen ein Maß an Individualisierungs- und
personalisierungs Möglichkeiten, wie ich es noch bei keinem anderen
Spiel gesehen habe. Anpassung von Kleidung, Skill Verhalten, Gelände,
Interaktionen, und was sonst nicht alles. Dann wäre da das
zahlreiche Angebot von verschiedenen Klassen, die sich offenbar alle
völlig unterschiedlich spielen und parallel dazu ein vielseitiges
Berufssystem. Aber was mich gerade am meisten fasziniert, sind die
zahlreichen Methoden ein eigenes Plätzchen in der Welt zu finden, das man
beliebig verwalten kann. Von einer bescheidenen Behausung in einer
größeren Stadt, über einem Anwesen auf dem Land, bis hin zu einer
eigenen Dimension.
Das
letztere klingt vielleicht übertrieben, aber es passt in die
Gestaltung der Welt. Was die Story angeht, so wird erklärt, dass die
Fantasy Welt "Raschara" von einer Katastrophe heimgesucht
und in den Limbus gezogen wurde, wo sie dann in Splitter zersprang.
Die einzige Möglichkeit zwischen den Splittern zu reisen, ist das
magische "Vortex". Praktisch ein "Teleport-System" und der Namensgeber des Spiels.
Und wenn eine Gruppe von Spielern die nötigen Voraussetzungen
erfüllt, dann kann sie einen neuen Splitter ergründen und für sich
beanspruchen. Im Grunde genommen wird dabei eine neue Zone im Spiel
generiert. Aber um diese zu nutzen, muss sie erst noch erobert
werden. Man könnte sagen, dass es für Gilden gedacht ist, da es für
einzelne Spieler, oder sogar für kleinere Gruppen, praktisch
unmöglich ist die Herausforderungen zu meistern.
Die
Art, wie das Charakterwachstum funktioniert, ist auch ungewöhnlich.
Es gibt zwar Erfahrungspunkte, aber keine Charakter-Level im
traditionellen Sinne. Die Erfahrungspunkte fungieren wie eine Art
Währung um sich neue Skills und Fähigkeiten freizuschalten. Aber
damit beschäftige ich mich später...
Im
Moment lese ich mich durch einen Artikel mit der philosophischen
Überschrift: "Welt im Wandel". Er beschreibt, wie durch
komplexe Algorithmen dynamische Ereignisse in der Spielwelt generiert werden, die für
neue Herausforderungen sorgen und die Spielwelt nachhaltig verändern
können ... [wirklich interessant!]
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als es an meiner Tür
klingelt. Ein leichtes Gefühl von Ärger steigt in mir auf, da ich
mitten im Absatz bin und mir klar wird, dass ich den ganzen Artikel
später noch einmal lesen müsste. Ich schüttele den aufkommenden
Frust ab und öffne die Tür. Da mein Schreibtisch direkt neben dem
Eingang steht, muss ich dafür nicht mal aufstehen.
Die
elektrische Schiebetür öffnet sich mit einem, mir mittlerweile
vertrauten, Zischen.
???:
"Oh - hab ich gestört? ... Ich - ähm ... ich könnte später
wiederkommen ... ?"
Der
unsichere Blick, die angespannte Körperhaltung, die gepresste Stimme
... Es war Nina.
Nicolas:
"Nein, ist schon gut, ich war nicht beschäftigt."
Das
war eine Lüge, aber in diesem Fall war es besser so.
Nicolas:
"Was kann ich für dich tun?"
Nina:
"Ahm - Du warst beim Mittagessen nicht in der Kantine. ... Und,
ahm, ... da dachte ich, ich bring dir was vorbei."
Sie
tritt unsicher von einem Bein auf das andere und präsentiert dann
verlegen eine transparente Tüte, die zwei versiegelte Aluschalen,
eine Limo und einen Pudding enthält. [Mittagessen ...] ich blickte
auf die Uhr auf meinem Pad. [14:32 - Das heißt ...] Ich sitze hier
seit über fünf Stunden. Kein Wunder dass ich hungrig bin.
Nicolas:
"Was? Ist es echt schon so spät? Ich habe die Zeit ganz
vergessen."
Nina:
"Oh, ich hab wohl doch gestört ..."
Ich
erhebe mich vom Stuhl und strecke mich demonstrativ. Es fühlt sich
gut an.
Nicolas:
"Nein, eigentlich kommst du genau richtig, ich hab gerade
bemerkt, dass ich Hunger kriege."
Sie
Lächelt erleichtert, aber ihre Unsicherheit bleibt. Ich kann mir
nicht helfen, aber in ihrer Nähe fühle ich mich unbehaglich. Ich
denke, es ist wegen dieser unsicheren Art bei ihr - das steckt irgendwie an. In
den ersten Tagen sah sie so verloren und verunsichert aus. Ich habe
ihr hier und da etwas geholfen, ein paar Sachen erklärt, seitdem
sucht sie ständig meine Gesellschaft. Ihre Anhänglichkeit ist
manchmal ... erdrückend. Hat sie sich in mich verliebt? Oder ist das
so eine Art "großer-Bruder-Komplex"? Oder sind wir in
ihren Augen einfach nur Freunde? Ihre Verklemmtheit ist nicht zu
durchschauen ...
Nicolas:
"Komm doch rein."
Ich
drehe den Stuhl so um, dass Sie sich setzen kann, und setze mich
selbst aufs Bett, das nur ein paar Schritte entfernt steht. Die
Räumlichkeiten für die Angestellten hier sind sehr ... funktionell.
Man könnte sogar sagen asketisch.
Die
Füße auszustrecken tut gut.
Nina:
"Ehm - ist das wirklich Ok für dich?"
Nicolas:
"Klar, warum nicht?
Ich
verspüre das Bedürfnis meine Begeisterung zum dem Spiel mit jemandem zu
teilen.
Sie
zögert kurz, kommt dann aber rein und setzt sich zaghaft auf die
Stuhlkante, als wäre der Stuhl heilig, oder als hätte Sie Angst,
dass er ihr Gewicht nicht tragen könnte. Sie trägt auch wieder
diesen bauschigen, grau-grünen Schal, der so gar nicht zum Rest
ihrer Kleidung passt. Vor einiger Zeit hatte sie eine Operation am
Hals. Den Grund dafür kenne ich nicht, aber die Naht ist schlecht
verheilt und hinterließ eine Schramme, die sich von ihrem
Ohrläppchen über den Kiefer und den Hals bis runter zum
Schlüsselbein zieht. Sie trägt deswegen oft Schals, oder einen
hohen Kragen, aber man sieht es trotzdem.
Nicolas:
"Was gab es den heute Leckeres?"
Nina:
"Ha? - Ahm ... Es gab Kartoffelgratin, mit gedämpftem Gemüse
... und Pudding. ... Ah! - und ich habe dir eine Limonade mitgebracht
... die Sorte die du so gern magst ...”
Ihre
Stimme wurde am Ende immer leiser und ihr Blick wandert zur Seite.
Ich blicke auf die Getränkedose. [Cola mit Mango-Aprikose Geschmack]
Es stimmte, ich mag diese Sorte, aber [... das hatte ich nie gesagt,
hat sie mich etwa beobachtet?] Hoffentlich fängt sie nicht an mich
zu stalken! Oder tut sie es schon?
Mir
wächst widerwillig ein angespanntes Lächeln. Im nächsten Moment
fühle ich mich damit wie ein Idiot.
Nicolas:
"Das klingt gut ... Ach, ich hab mich bei dir noch gar nicht
bedankt."
Nina:
"Ha?"
Nicolas:
"Für das Essen. Danke!"
Nina:
"Ach, ahm ... keine Ursache."
Der Duft von gebackenem Käse und Sahnesoße erfüllt den Raum. Das
Essen ist schon etwas abgekühlt, aber das Stört mich nicht. Während
ich mich mit dem Plastik-Besteck daran zu schaffen mache, überlege
ich wie ich am besten ein Gespräch anfange. Wenn ich nichts sage,
würden wir vermutlich noch stundenlang hier sitzen und uns
anschweigen.
Nicolas:
"Und, hast du dir schon das Spiel angeschaut, das wir testen
sollen?"
Nina:
"Ahm ... dieses "Vortex"?"
Nicolas:
"Ja, das."
[Welches
sollte ich sonst meinen?]
Nina:
"Schon, ... aber ich verstehe davon nichts. Ich bin kein Gamer."
[Gamer...]
Bin ich einer? Sicher, hin und wieder spiele ich gerne mal was, ich
kenne auch die ganzen Szene-Begriffe, Aber reicht es aus um mich Gamer zu
nennen?
Gerade
als ich fragen will was genau sie nicht versteht, kommt mir ein
beunruhigender Gedanke: Wenn ich anfange ihr jetzt alles zu erklären,
dann wird sie sich auch in der VR ständig an mich klammern.
[Andererseits ...] könnte das für mich nützlich sein. Ich könnte
ihr empfehlen eine Support-Klasse zu spielen, die mich dann während
der ganzen Zeit unterstützt. Ihr wäre es vermutlich ohnehin egal
welche Klasse sie wählt.
Dadurch
würde sie allerdings nur noch mehr von mir abhängig werden.
Während
ich genüsslich auf der knusprigen Käse-Kruste kaue und darüber
nachdenke, kommt mir ein Gedanke, der sich leicht genial anfühlt:
Warum ist sie überhaupt so anhänglich? [Weil es ihr an
Selbstbewusstsein mangelt!] Wenn sie Selbstbewusster wäre, würde
sie sich vielleicht selber von mir abkapseln. Um das zu erreichen,
könnte ich ihr stattdessen empfehlen eine aggressivere Klasse zu
spielen. Eine die auch ganz gut ohne Hilfe klar kommt, und nicht von
anderen Spielern abhängig ist. [Aber welche?] Ich gehe in Gedanken
die verfügbaren Charakterklassen durch, die ich heute Morgen schon
ausgiebig inspiziert habe:
Der
"Beschwörer" ist eine recht selbstständige Klasse, aber
er ist sehr komplex und nichts für Anfänger. Außerdem wollte ich
ihn selbst spielen. Und wenn sie die selbe Klasse spielen würde wie
ich, dann würde sie mich vermutlich nur kopieren.
Der
Wild-Jäger ist in Gruppen sicher willkommen, er käme aber auch
alleine zurecht, wenn er sich nicht übernimmt. Außerdem hat er
einen Tier-Begleiter, das könnte bei ihr einen Beschützer Instinkt
wecken.
Dann
wäre da noch der “Nekromant” ... aber sie ist einfach überhaupt
nicht der Typ dafür. Ich könnte sie sogar beleidigen, wenn ich ihr
so eine Klasse empfehle.
Zum
Schluss fällt mir noch der “Söldner” ein, ein Nahkämpfer.
Ausgeglichen in Angriff und Verteidigung und er kann sich selbst
heilen. Um allein zu spielen ist er am besten geeignet, das stand
sogar wörtlich so in der Beschreibung.
[Hm,
Wild-Jäger oder Söldner?] Der Söldner ist sicher besser, wenn es
darum geht solo zu spielen. [Aber es geht hier ja nicht um
Effizienz.] Seinen Gegnern in einer lebensechten VR Auge-in-Auge, im
Nahkampf gegenüber zu treten, könnte zu viel für sie sein. Der
Jäger erlaubt da mehr Distanz ... es ist beschlossen!
Nicolas:
"Was genau verstehst du denn nicht, vielleicht kann ich dir was
erklären?"
Erst
jetzt fällt mir auf, dass die Schale mit dem Kartoffelgratin schon
halb leer ist.
Nina:
"Ha?"
Ich
hab sie wohl aus den Gedanken gerissen.
Nina:
"Ahm, ich weiß nicht ... alles eigentlich ... Ich hab' ein
bisschen dazu gelesen, aber diese ganzen Begriffe ..."
Den
Rest des Nachmittags verbringen wir mit Lektüre und Erklärungen,
später ziehe ich auch Sammy hinzu, weil auch ich nicht alles
verstehe.
Ich habe einen Plan: Ich werde ihr helfen - und zwar
langfristig! Sie würde dadurch zu mehr Selbstsicherheit finden und
ich hätte sie nicht ständig am Rockzipfel hängen, zwei Fliegen mit
einer Klappe.
Zum
Schluss fragt sie mich welche Klasse ich denn Spielen werde. Ich
antworte, dass ich mich noch nicht entschieden habe. Das ist zwar
gelogen, aber in diesem Fall ist es besser so.
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