Nachdem
wir auf Gerald und eine weitere Spielerin (deren Identität ich nicht
erraten konnte) trafen, vertieften sich unsere Beiden Künstler in
eine Diskussion. Die Menge an Fachwörtern und Scenenbegriffen war
dabei so erschlagend, dass ich nach einer Weile beschloss mich
freundlich zu verabschieden und alleine weiterzugehen.
Im
Moment sitze ich knöcheltief in den sanften Wellen des Sees. Das
leise, rhythmische Schnurren der kleinen Steine, während sie im Sand
von den Wellen umgewälzt werden, wirkt entspannend. Debby hatte
Recht, das Wasser ist wirklich kalt, auch das Gefühl der Nässe auf
der Haut fühlt sich absolut real an.
Angesichts
dieser Idylle ist der Gedanke, dass ich mich in einer Simulation
befinde ... störend ... aber unvermeidbar. Es ist auch nichts
wogegen ich ankämpfen möchte, das wäre für mich gleichgesetzt mit
Realitätsverlust.
Während
ich die Ruhe genieße, verfolge ich mit den Augen die Grüppchen von
Spielern entlang des Sees. Der, wie ich feststellte, weitaus weniger
rund ist, als ich anfangs dachte. Zwei Frauen kreischen vergnügt,
wobei sie sich gegenseitig nass spritzen. [Nicht dass sie sich
erkälten ... Moment ... ist das hier überhaupt möglich?] Ich
spüre, wie auch meine Füße langsam beginnen zu frieren. Selbst
wenn es für meinen Spiel-Charakter nicht möglich ist, sich einen
Schnupfen zu holen, könnte es sich vielleicht psychologisch auf
meinen echten Körper auswirken. Dann könnte ich mich krank
“fühlen”, weil mein Gehirn “denkt” dass es sich unterkühlt
hat. [Besser, ich lass es nicht darauf ankommen.]
Ich
schreite hastig aus dem Wasser und ziehe mir die pantoffelartigen
Schuhe meines Avatars wieder an. Das Design des Schuhwerks wirkt sehr
improvisiert, was sie aber nicht unbequem macht.
Bei
meinem weiteren Erkundungsgang, den Strand entlang, bietet sich mir
ein überraschend obskures Bild. Auf einem der größeren Felsen, von
denen es hier nicht viele gibt, sitzt ein Mann. Genau genommen
“hockt” er auf der höchsten Stelle, was ungefähr zwei Meter
über dem Boden ist. Die ganze Zeit die ich auf ihn zukomme, hat er
sich noch kein bisschen bewegt. Er blickt völlig starr in die
Ferne, zum Horizont wie ich denke. Anfangs war ich mir nicht mal
sicher ob es jemand von uns ist und nicht irgendein verrückter
Quest-NPC, aber seine Kleidung und das übrige Erscheinungsbild sind
meinem, und dem der anderen, zu ähnlich.
Als
ich schließlich, mit leichtem Unbehagen, näher komme und überlege
ob ich grüßen, oder einfach vorbei gehen soll, wendet er
überraschend seinen Kopf in meine Richtung.
Was
dabei so verstörend ist, ist dass er während der uneiligen Bewegung
nur seinen Kopf bewegt, nicht aber die weit offenen Augen. Das
leichte Lächeln auf seinem Gesicht wirkte wie eingefroren. Im Halbdunklen wirkt die Situation, wie aus einem drittklassigen
Horrorfilm.
???:
“Ich grüße dich, Träumer!”
Es
gibt nur eine Person, die mich so grüssen würde ...
Nicolas:
“... Tamirat?”
Tamirat:
“Ich fürchte du irrst dich. Tamirat bin ich, wenn ich wach bin.
Hier bin ich ...”
Er
schaut auf seinem Körper herab.
Tamirat:
“... Jemand anders ... Ich träume von einem Fremden, der Fremde
trifft, die er doch kennt.”
Er
sagt es mit einer spürbaren inneren Ruhe, die nicht vermuten lässt,
dass er diesen Umstand als störend empfindet.
Nicolas:
“Keine Sorge, dieses Aussehen ist nur geborgt. Wir werden vor dem Beta test noch die Möglichkeit haben unsere Avatare anzupassen. Dann
kannst du aussehen wie du möchtest.”
Tamirat:
“Dann werden wir uns dort wieder begegnen. Dann vielleicht nicht
mehr als fremde.”
Nicolas:
“Ich freue mich drauf!”
Das
kurze Gespräch wirkt, als wäre es auch schon beendet und ich
verabschiede mich mit einer Phrase, die mir angebracht erscheint:
Nicolas:
“Einen schönen Traum wünsche ich dir noch!”
Ich
fühle mich seltsam, wenn ich sowas sage. So, als würde es mir nicht
zustehen.
Tamirat:
“Dir auch mein Freund, dir auch.”
Ich
gehe am Felsen vorbei. Als ich mich nach einigen Schritten wieder
umschaue ist Tamirat nicht mehr da. [Wo ist er hin?] Ich lasse meinen
Blick hastig über die Umgebung schweifen, aber er ist nirgends zu
sehen. [Nicht dass er schon jagen gegangen ist, oder sowas ...] So
ein Spiel hat ganz andere Regeln, als die Realität. Er bräuchte
schon zumindest Anfängerausrüstung, nicht bloß seine zwei Hände.
Davon abgesehen weiß ich nicht mal ob es in der Gegend irgendwelche
Gegner gibt. [Ich hoffe nicht ...]
Ob
Tamirat auch nur das Geringste vom Onlinespielen versteht? Oder von
Spielen überhaupt? [... Unwahrscheinlich!] Wobei, ich sollte ihn da
vielleicht nicht vorschnell beurteilen. Er sagte ja, das die digitale
Welt seinen Träumen neue Farbe verleiht. Möglicherweise hat er
schon Erfahrung in VR-spielen gesammelt, und kennt sich ganz gut aus.
Vielleicht sogar besser als ich ... Nächstes mal wenn wir uns sehen,
könnte ich ihn ja mal danach fragen.
Ich
werde aus meinen Gedanken gerissen, als vor mir ein Schatten über
den blassen Sand huscht und nach einem halben Meter, mit einem
plumpsenden Geräusch, wieder stehen bleibt.
[Was
... ?] Obwohl ich mich nicht wirklich erschrocken habe, muss ich
einen gewissen Drang unterdrücken, zurückzuweichen.
Bei
genauerem Hinsehen fallen mir die Konturen eines Frosches auf. Es ist
hell genug um zu erkennen was es ist, aber zu dunkel um
beispielsweise seine Farbe zu bestimmen.
Weiter
vor mir schlendern einige Leute gemächlich in meine Richtung, aber
meine Aufmerksamkeit gilt erst mal der kleinen schleimigen Kreatur.
Das
heißt also, es gibt hier auch Kleingetier. Kann man damit
interagieren, oder gehören die einfach zur Umgebung? Wenn eine
Interaktion möglich ist, sollte man ihn anvisieren können ... [OK,
wie war das nochmal?] Die Erklärungen von Mr. Matsugami zur
Spielsteuerung kommen mir allmählich wieder ins Gedächtnis...
Ich
zeige mit ausgestreckten, zusammengelegten Zeige- und Mittelfinger
auf den Frosch, eine Geste die vom System als Auswahl-Befehl angesehen
werden sollte. Der Frosch wird von einem blassen, roten Rahmen unterlegt. Ich spreize meine Finger, was symbolisiert, dass ich mit
meiner Auswahl zufrieden bin. Über der Kreatur erscheint ein kleines
Fenster das seinen Namen und einen Balken für Lebenspunkte enthält:
{Grüner
Teichfrosch} {HP: 1/1}
Der
Name kommt mir recht spezifisch vor. Er lässt vermuten, dass es
andere Frosch-Arten gibt, die sich zumindest in Farbe und Lebensraum
unterscheiden. Der Lebenspunktebalken bedeutet, dass er getötet
werden kann.
Die
plötzliche Aufmerksamkeit an seiner Person wird von ihm nicht
befürwortet, und der Frosch, der nur etwa eine halbe Hand groß ist,
macht ein paar abweisende Sprünge von mir weg, wobei er stets in
Wassernähe bleibt. Das Fenster mit seinen Informationen bewegt sich
dabei sprunghaft mit ihm. Dabei fällt mir auf, dass es an der
rechten Seite das Symbol eines geschlossenen Vorhängeschlosses hat.
Ich deute auf das Schloss und strecke meinen Daumen zur Seite - der
Befehl um etwas zu öffnen, oder zu aktivieren. Das Symbol ändert
sich zu einem offenen Schloss und das kleine Fenster folgt nicht mehr
der Kreatur. Stattdessen erscheint jetzt ein zusätzlicher
mini-Lebensbalken über dem Frosch der weiter seinen Bewegungen folgt
und mit einer haar dünnen schimmernden Linie mit dem Hauptfenster
verbunden ist. Das Fenster selbst lässt sich nun in meinem
Sichtbereich frei platzieren.
Auch
als der gestresste Frosch schlussendlich ins Wasser springt, kann ich
seine Position anhand seines Lebenspunktebalkens nach verfolgen.
[Interessant!]
Das
kleine Grüppchen aus drei Leuten ist nun bei mir angekommen und eine
freundliche weibliche Stimme verlangt nach meiner Aufmerksamkeit.
???:
“Was machst du da?”
Die
Begrüßung ist, wenn auch freundlich, etwas abrupt.
Ich
wende mich der Gruppe zu.
Nicolas:
“Ich freunde mich mit den Einheimischen an.”
Ein
Mann und zwei Frauen schauen mich verwundert an. Jetzt wo ich zum
ersten mal zwei der weiblichen Avatare nebeneinander sehe, fällt mir
erst auf wie sehr sie einander gleichen. Hätten sie nicht
unterschiedliche Haarfarbe und Frisur, könnte man meinen es währen
Zwillinge oder Klone. Ich hoffe, dass die NPC's hier mit mehr
Individualität versehen sind.
Die
Frau links mit der schwarzen kurzen Frisur, welche auf mich etwas zu
modern wirkt und überhaupt nicht zu ihrem Kleidungsstil passt, hackt
nach:
?Schwarzhaarige?:
„Welche Einheimischen?“
Nicolas:
„Ach, nur ein Frosch. Ich habe an ihm ein paar Spielfunktionen
ausprobiert.“
Die
andere Dame, mit dem langen blonden Haar und geflochtenen Zöpfen,
kauert sich sofort, verkrampft hinter den Rücken des schweigsamen
Mannes und winselt:
?Blondine?:
„Was? Hier gibt’s Frösche? ...“
Sie
schaut sich hastig auf dem Boden um.
?Blondine?:
„ ... Ich mag keine Frösche!“
Nicolas:
„Wenn es dich beruhigt: die mögen dich auch nicht.“
?Blondine?:
„Das ist nicht lustig, Frösche sind eklig!“
?Schwarzhaarige?:
„Wo ist denn hier einer?“
Nicolas:
„Er ist vor mir geflüchtet. Da drüben!“
Die
Gruppe schaut in die Richtung, in die ich deute.
?Schwarzhaarige?:
„Hä, wo denn?“
Nicolas:
„Er ist ins Wasser gehüpft. Ich schätze, ich ging ihm auf die
Nerven.“
?Blondine?:
„Waah, ich will hier weg, bevor er noch wiederkommt.“
?Schwarzhaarige?:
„Hast du eine Frosch-Phobie, oder sowas?“
?Blondine?:
„Hrrmmm …“
Die
blonde Frau hat ihre Begleiter am Arm gepackt und zerrt sie mit sich
mit. Ihr Benehmen wirkt viel zu kindisch für ihr erwachsenes
Äußeres. Die Andere schaut mich mit leidvollem Blick an, während
sie sich winkend verabschiedet.
?Schwarzhaarige?:
„Na gut, es sieht aus als müssten wir weiter. Man sieht sich!“
Ich
schaue ihnen noch einige Momente lang hinterher.
[Wer
waren die?] Ich habe keinen von Ihnen erkannt. Ich könnte
bestenfalls sagen, wer sie nicht waren. [Wie viel das ausmacht, wenn
jemand ein anderes Gesicht hat!] Und was ist das eigentlich für eine
stille Absprache sich nicht gegenseitig vorzustellen, obwohl man weiß
das einen niemand erkennt? [Den nächsten frage ich als erstes nach
dem Namen! Oder noch besser: Ich stelle mich vor.]
Plötzlich
verschwindet das kleine Fenster, das ich in der linken oberen Ecke
meines Sichtfeldes platziert hatte. Ich schaue mich nach der Stelle
um, an der ich zum letzten mal den Frosch gesehen habe. Der
Lebensbalken ist auch nicht mehr da. Wahrscheinlich ist der Kleine
einfach außer Reichweite, oder die Verbindung wird automatisch
unterbrochen, wenn keine Interaktion stattfindet. [Oder …] Er
könnte auch von etwas größerem gefressen worden sein...
Ein
gemischtes Gefühl von Neugier und Beklommenheit steigt in mir auf.
Ich strecke Zeige- und Mittelfinger erneut aus und fahre mit der Hand
ein wenig herum, während ich auf die Wasseroberfläche deute. Ich
kann ein paar kleine Fische aufspüren und zwei weitere Frösche,
aber nichts größeres. [Ich sollte vorerst aber doch aufs Schwimmen
verzichten, nur zur Sicherheit.]
Dabei
kommt mir ein Gedanke, der meine Neugier erneut reizt: [Was ist mit
dem Rest der Umgebung?] Ich wende mich zum Waldrand und beginne
diesmal das Dickicht mit der ausgestreckten Hand abzusuchen.
Allmählich füllt sich mein Sichtfeld mit Info-Fenstern:
{Grauspatz}
{HP: 1/1}
{Waldeule}
{HP: 5/5}
{Spitzmaus}
{HP: 1/1}
{Waldigel}
{HP 1/1}
…
Wir
sind hier wohl nicht so allein, wie ich dachte.
Als
nächstes vollführe ich mit der Hand eine halbe Drehung. Ein Befehl
zum durchblättern verschiedener Informationen, oder wie in diesem
Fall, verschiedener Auswahlgruppen. Die auswählbaren Objekte ändern
sich sofort.
{Ginselkraut}
{HP: 1/1}
{Nasenpilz}
{HP 1/1}
{Kreuzbeeren}
{HP 1/1}
{Schlingfarn}
{HP 1/1}
Offenbar
lassen sich Kräuter auch zerstören, zumindest haben sie
Lebenspunkte.
Ich
schalte noch durch die anderen Auswahlgruppen und bekomme Bäume und
Steine in der Umgebung angezeigt, allerdings mit erheblich mehr
Lebenspunkten. Darüber hinaus gab es auch Gruppen die nichts
anzeigten. Die sind wohl für Auswahlkategorien gedacht, die es hier
in der Umgebung nicht gibt. [Vielleicht Bauwerke oder so was.] In
jedem Fall scheint meine Reichweite auf 10 – 15 Meter beschränkt
zu sein.
Ich
deute mit gespreizten Fingern auf eines der Infofenster und führe
sie zusammen. Der Befehl um etwas zu schließen oder auszuschalten.
Das Fenster verschwindet. Danach schließe ich der Reihe nach auch die übrigen.
[Hmm
… bilde ich mir das nur ein, oder wird es langsam heller?] Ich
wende mich wieder dem See zu, um mir einen besseren Überblick zu
verschaffen. Tatsächlich bildet sich über den Bäumen am anderen
Seeufer ein rötlicher Schleier, der allmählich die Umgebung in ein
mysteriöses Morgenrot eintaucht. Das gleiche bedrückende Morgenrot
wie an dem einen Morgen damals … Mir läuft ein kalter Schauer über
den Rücken. [Besser nicht daran denken...]
Ich
versuche die aufkommende innere Unruhe abzuschütteln. [Es ist nicht
derselbe Wald und auch nicht derselbe Morgen. Und auch ich bin nicht
mehr der Selbe.] Ungeachtet meiner Versuche rational zu bleiben,
blitzen in meinem Kopf Bilder auf, die ich nicht sehen will...
???:
„Yo, Nicolas!“
Ich
schaue reflexartig nach der Stimme die nach mir Ruft. Gut fünfzig
Meter entfernt steht ein Mann mit hoch erhobener Hand. Ich denke es
ist Collins Avatar. Er ist gut sichtbar. [Ist es wieder heller
geworden? Wie lange stehe ich hier schon?] Ich grüße zurück, wobei
ich mich etwas benebelt fühle, als wäre ich geweckt worden.
Collin:
„Die Anderen haben einen Pfad entdeckt der in den Wald hinein
führt. Hast du Bock mitzukommen?“
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