Kapitel 9 - "Bekannte Fremde"

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Kapitel 9 - “Bekannte Fremde”


   Nachdem wir auf Gerald und eine weitere Spielerin (deren Identität ich nicht erraten konnte) trafen, vertieften sich unsere Beiden Künstler in eine Diskussion. Die Menge an Fachwörtern und Scenenbegriffen war dabei so erschlagend, dass ich nach einer Weile beschloss mich freundlich zu verabschieden und alleine weiterzugehen.
Im Moment sitze ich knöcheltief in den sanften Wellen des Sees. Das leise, rhythmische Schnurren der kleinen Steine, während sie im Sand von den Wellen umgewälzt werden, wirkt entspannend. Debby hatte Recht, das Wasser ist wirklich kalt, auch das Gefühl der Nässe auf der Haut fühlt sich absolut real an.
Angesichts dieser Idylle ist der Gedanke, dass ich mich in einer Simulation befinde ... störend ... aber unvermeidbar. Es ist auch nichts wogegen ich ankämpfen möchte, das wäre für mich gleichgesetzt mit Realitätsverlust.
Während ich die Ruhe genieße, verfolge ich mit den Augen die Grüppchen von Spielern entlang des Sees. Der, wie ich feststellte, weitaus weniger rund ist, als ich anfangs dachte. Zwei Frauen kreischen vergnügt, wobei sie sich gegenseitig nass spritzen. [Nicht dass sie sich erkälten ... Moment ... ist das hier überhaupt möglich?] Ich spüre, wie auch meine Füße langsam beginnen zu frieren. Selbst wenn es für meinen Spiel-Charakter nicht möglich ist, sich einen Schnupfen zu holen, könnte es sich vielleicht psychologisch auf meinen echten Körper auswirken. Dann könnte ich mich krank “fühlen”, weil mein Gehirn “denkt” dass es sich unterkühlt hat. [Besser, ich lass es nicht darauf ankommen.]
Ich schreite hastig aus dem Wasser und ziehe mir die pantoffelartigen Schuhe meines Avatars wieder an. Das Design des Schuhwerks wirkt sehr improvisiert, was sie aber nicht unbequem macht.


   Bei meinem weiteren Erkundungsgang, den Strand entlang, bietet sich mir ein überraschend obskures Bild. Auf einem der größeren Felsen, von denen es hier nicht viele gibt, sitzt ein Mann. Genau genommen “hockt” er auf der höchsten Stelle, was ungefähr zwei Meter über dem Boden ist. Die ganze Zeit die ich auf ihn zukomme, hat er sich noch kein bisschen bewegt. Er blickt völlig starr in die Ferne, zum Horizont wie ich denke. Anfangs war ich mir nicht mal sicher ob es jemand von uns ist und nicht irgendein verrückter Quest-NPC, aber seine Kleidung und das übrige Erscheinungsbild sind meinem, und dem der anderen, zu ähnlich.
Als ich schließlich, mit leichtem Unbehagen, näher komme und überlege ob ich grüßen, oder einfach vorbei gehen soll, wendet er überraschend seinen Kopf in meine Richtung.
Was dabei so verstörend ist, ist dass er während der uneiligen Bewegung nur seinen Kopf bewegt, nicht aber die weit offenen Augen. Das leichte Lächeln auf seinem Gesicht wirkte wie eingefroren. Im Halbdunklen wirkt die Situation, wie aus einem drittklassigen Horrorfilm.
???: “Ich grüße dich, Träumer!”
Es gibt nur eine Person, die mich so grüssen würde ...
Nicolas: “... Tamirat?”
Tamirat: “Ich fürchte du irrst dich. Tamirat bin ich, wenn ich wach bin. Hier bin ich ...”
Er schaut auf seinem Körper herab.
Tamirat: “... Jemand anders ... Ich träume von einem Fremden, der Fremde trifft, die er doch kennt.”
Er sagt es mit einer spürbaren inneren Ruhe, die nicht vermuten lässt, dass er diesen Umstand als störend empfindet.
Nicolas: “Keine Sorge, dieses Aussehen ist nur geborgt. Wir werden vor dem Beta test noch die Möglichkeit haben unsere Avatare anzupassen. Dann kannst du aussehen wie du möchtest.”
Tamirat: “Dann werden wir uns dort wieder begegnen. Dann vielleicht nicht mehr als fremde.”
Nicolas: “Ich freue mich drauf!”
Das kurze Gespräch wirkt, als wäre es auch schon beendet und ich verabschiede mich mit einer Phrase, die mir angebracht erscheint:
Nicolas: “Einen schönen Traum wünsche ich dir noch!”
Ich fühle mich seltsam, wenn ich sowas sage. So, als würde es mir nicht zustehen.
Tamirat: “Dir auch mein Freund, dir auch.”
Ich gehe am Felsen vorbei. Als ich mich nach einigen Schritten wieder umschaue ist Tamirat nicht mehr da. [Wo ist er hin?] Ich lasse meinen Blick hastig über die Umgebung schweifen, aber er ist nirgends zu sehen. [Nicht dass er schon jagen gegangen ist, oder sowas ...] So ein Spiel hat ganz andere Regeln, als die Realität. Er bräuchte schon zumindest Anfängerausrüstung, nicht bloß seine zwei Hände. Davon abgesehen weiß ich nicht mal ob es in der Gegend irgendwelche Gegner gibt. [Ich hoffe nicht ...]
Ob Tamirat auch nur das Geringste vom Onlinespielen versteht? Oder von Spielen überhaupt? [... Unwahrscheinlich!] Wobei, ich sollte ihn da vielleicht nicht vorschnell beurteilen. Er sagte ja, das die digitale Welt seinen Träumen neue Farbe verleiht. Möglicherweise hat er schon Erfahrung in VR-spielen gesammelt, und kennt sich ganz gut aus. Vielleicht sogar besser als ich ... Nächstes mal wenn wir uns sehen, könnte ich ihn ja mal danach fragen.



   Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als vor mir ein Schatten über den blassen Sand huscht und nach einem halben Meter, mit einem plumpsenden Geräusch, wieder stehen bleibt.
[Was ... ?] Obwohl ich mich nicht wirklich erschrocken habe, muss ich einen gewissen Drang unterdrücken, zurückzuweichen.
Bei genauerem Hinsehen fallen mir die Konturen eines Frosches auf. Es ist hell genug um zu erkennen was es ist, aber zu dunkel um beispielsweise seine Farbe zu bestimmen.
Weiter vor mir schlendern einige Leute gemächlich in meine Richtung, aber meine Aufmerksamkeit gilt erst mal der kleinen schleimigen Kreatur.
Das heißt also, es gibt hier auch Kleingetier. Kann man damit interagieren, oder gehören die einfach zur Umgebung? Wenn eine Interaktion möglich ist, sollte man ihn anvisieren können ... [OK, wie war das nochmal?] Die Erklärungen von Mr. Matsugami zur Spielsteuerung kommen mir allmählich wieder ins Gedächtnis...
Ich zeige mit ausgestreckten, zusammengelegten Zeige- und Mittelfinger auf den Frosch, eine Geste die vom System als Auswahl-Befehl angesehen werden sollte. Der Frosch wird von einem blassen, roten Rahmen unterlegt. Ich spreize meine Finger, was symbolisiert, dass ich mit meiner Auswahl zufrieden bin. Über der Kreatur erscheint ein kleines Fenster das seinen Namen und einen Balken für Lebenspunkte enthält:
{Grüner Teichfrosch} {HP: 1/1}
Der Name kommt mir recht spezifisch vor. Er lässt vermuten, dass es andere Frosch-Arten gibt, die sich zumindest in Farbe und Lebensraum unterscheiden. Der Lebenspunktebalken bedeutet, dass er getötet werden kann.
Die plötzliche Aufmerksamkeit an seiner Person wird von ihm nicht befürwortet, und der Frosch, der nur etwa eine halbe Hand groß ist, macht ein paar abweisende Sprünge von mir weg, wobei er stets in Wassernähe bleibt. Das Fenster mit seinen Informationen bewegt sich dabei sprunghaft mit ihm. Dabei fällt mir auf, dass es an der rechten Seite das Symbol eines geschlossenen Vorhängeschlosses hat. Ich deute auf das Schloss und strecke meinen Daumen zur Seite - der Befehl um etwas zu öffnen, oder zu aktivieren. Das Symbol ändert sich zu einem offenen Schloss und das kleine Fenster folgt nicht mehr der Kreatur. Stattdessen erscheint jetzt ein zusätzlicher mini-Lebensbalken über dem Frosch der weiter seinen Bewegungen folgt und mit einer haar dünnen schimmernden Linie mit dem Hauptfenster verbunden ist. Das Fenster selbst lässt sich nun in meinem Sichtbereich frei platzieren.
Auch als der gestresste Frosch schlussendlich ins Wasser springt, kann ich seine Position anhand seines Lebenspunktebalkens nach verfolgen. [Interessant!]
Das kleine Grüppchen aus drei Leuten ist nun bei mir angekommen und eine freundliche weibliche Stimme verlangt nach meiner Aufmerksamkeit.
???: “Was machst du da?”
Die Begrüßung ist, wenn auch freundlich, etwas abrupt.
Ich wende mich der Gruppe zu.
Nicolas: “Ich freunde mich mit den Einheimischen an.”
Ein Mann und zwei Frauen schauen mich verwundert an. Jetzt wo ich zum ersten mal zwei der weiblichen Avatare nebeneinander sehe, fällt mir erst auf wie sehr sie einander gleichen. Hätten sie nicht unterschiedliche Haarfarbe und Frisur, könnte man meinen es währen Zwillinge oder Klone. Ich hoffe, dass die NPC's hier mit mehr Individualität versehen sind.
Die Frau links mit der schwarzen kurzen Frisur, welche auf mich etwas zu modern wirkt und überhaupt nicht zu ihrem Kleidungsstil passt, hackt nach:
?Schwarzhaarige?: „Welche Einheimischen?“
Nicolas: „Ach, nur ein Frosch. Ich habe an ihm ein paar Spielfunktionen ausprobiert.“
Die andere Dame, mit dem langen blonden Haar und geflochtenen Zöpfen, kauert sich sofort, verkrampft hinter den Rücken des schweigsamen Mannes und winselt:
?Blondine?: „Was? Hier gibt’s Frösche? ...“
Sie schaut sich hastig auf dem Boden um.
?Blondine?: „ ... Ich mag keine Frösche!“
Nicolas: „Wenn es dich beruhigt: die mögen dich auch nicht.“
?Blondine?: „Das ist nicht lustig, Frösche sind eklig!“
?Schwarzhaarige?: „Wo ist denn hier einer?“
Nicolas: „Er ist vor mir geflüchtet. Da drüben!“
Die Gruppe schaut in die Richtung, in die ich deute.
?Schwarzhaarige?: „Hä, wo denn?“
Nicolas: „Er ist ins Wasser gehüpft. Ich schätze, ich ging ihm auf die Nerven.“
?Blondine?: „Waah, ich will hier weg, bevor er noch wiederkommt.“
?Schwarzhaarige?: „Hast du eine Frosch-Phobie, oder sowas?“
?Blondine?: „Hrrmmm …“
Die blonde Frau hat ihre Begleiter am Arm gepackt und zerrt sie mit sich mit. Ihr Benehmen wirkt viel zu kindisch für ihr erwachsenes Äußeres. Die Andere schaut mich mit leidvollem Blick an, während sie sich winkend verabschiedet.
?Schwarzhaarige?: „Na gut, es sieht aus als müssten wir weiter. Man sieht sich!“
Nicolas: "Passt auf, wo ihr hintretet, nicht das ihr auf einen Einheimischen tretet."
Ich schaue ihnen noch einige Momente lang hinterher.
[Wer waren die?] Ich habe keinen von Ihnen erkannt. Ich könnte bestenfalls sagen, wer sie nicht waren. [Wie viel das ausmacht, wenn jemand ein anderes Gesicht hat!] Und was ist das eigentlich für eine stille Absprache sich nicht gegenseitig vorzustellen, obwohl man weiß das einen niemand erkennt? [Den nächsten frage ich als erstes nach dem Namen! Oder noch besser: Ich stelle mich vor.]
Plötzlich verschwindet das kleine Fenster, das ich in der linken oberen Ecke meines Sichtfeldes platziert hatte. Ich schaue mich nach der Stelle um, an der ich zum letzten mal den Frosch gesehen habe. Der Lebensbalken ist auch nicht mehr da. Wahrscheinlich ist der Kleine einfach außer Reichweite, oder die Verbindung wird automatisch unterbrochen, wenn keine Interaktion stattfindet. [Oder …] Er könnte auch von etwas größerem gefressen worden sein...
Ein gemischtes Gefühl von Neugier und Beklommenheit steigt in mir auf. Ich strecke Zeige- und Mittelfinger erneut aus und fahre mit der Hand ein wenig herum, während ich auf die Wasseroberfläche deute. Ich kann ein paar kleine Fische aufspüren und zwei weitere Frösche, aber nichts größeres. [Ich sollte vorerst aber doch aufs Schwimmen verzichten, nur zur Sicherheit.]
Dabei kommt mir ein Gedanke, der meine Neugier erneut reizt: [Was ist mit dem Rest der Umgebung?] Ich wende mich zum Waldrand und beginne diesmal das Dickicht mit der ausgestreckten Hand abzusuchen. Allmählich füllt sich mein Sichtfeld mit Info-Fenstern:
{Grauspatz} {HP: 1/1}
{Waldeule} {HP: 5/5}
{Spitzmaus} {HP: 1/1}
{Waldigel} {HP 1/1}
Wir sind hier wohl nicht so allein, wie ich dachte.
Als nächstes vollführe ich mit der Hand eine halbe Drehung. Ein Befehl zum durchblättern verschiedener Informationen, oder wie in diesem Fall, verschiedener Auswahlgruppen. Die auswählbaren Objekte ändern sich sofort.
{Ginselkraut} {HP: 1/1}
{Nasenpilz} {HP 1/1}
{Kreuzbeeren} {HP 1/1}
{Schlingfarn} {HP 1/1}
Offenbar lassen sich Kräuter auch zerstören, zumindest haben sie Lebenspunkte.
Ich schalte noch durch die anderen Auswahlgruppen und bekomme Bäume und Steine in der Umgebung angezeigt, allerdings mit erheblich mehr Lebenspunkten. Darüber hinaus gab es auch Gruppen die nichts anzeigten. Die sind wohl für Auswahlkategorien gedacht, die es hier in der Umgebung nicht gibt. [Vielleicht Bauwerke oder so was.] In jedem Fall scheint meine Reichweite auf 10 – 15 Meter beschränkt zu sein.
Ich deute mit gespreizten Fingern auf eines der Infofenster und führe sie zusammen. Der Befehl um etwas zu schließen oder auszuschalten. Das Fenster verschwindet. Danach schließe ich der Reihe nach auch die übrigen.
[Hmm … bilde ich mir das nur ein, oder wird es langsam heller?] Ich wende mich wieder dem See zu, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Tatsächlich bildet sich über den Bäumen am anderen Seeufer ein rötlicher Schleier, der allmählich die Umgebung in ein mysteriöses Morgenrot eintaucht. Das gleiche bedrückende Morgenrot wie an dem einen Morgen damals … Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. [Besser nicht daran denken...]
Ich versuche die aufkommende innere Unruhe abzuschütteln. [Es ist nicht derselbe Wald und auch nicht derselbe Morgen. Und auch ich bin nicht mehr der Selbe.] Ungeachtet meiner Versuche rational zu bleiben, blitzen in meinem Kopf Bilder auf, die ich nicht sehen will...
???: „Yo, Nicolas!“
Ich schaue reflexartig nach der Stimme die nach mir Ruft. Gut fünfzig Meter entfernt steht ein Mann mit hoch erhobener Hand. Ich denke es ist Collins Avatar. Er ist gut sichtbar. [Ist es wieder heller geworden? Wie lange stehe ich hier schon?] Ich grüße zurück, wobei ich mich etwas benebelt fühle, als wäre ich geweckt worden.
Collin: „Die Anderen haben einen Pfad entdeckt der in den Wald hinein führt. Hast du Bock mitzukommen?“
Im Moment ist mir jede Abwechslung willkommen.


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