Kapitel 7 - "Erste Schritte"

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Kapitel 7 - "Erste Schritte"

   Ich sitze wieder auf dem weichen Polster des futuristischen Sessels, oder eher gesagt; ich liege halb darauf. Es ist derselbe Sessel wie jedes mal. Er ist auf mich kalibriert, daher tauschen wir die Plätze nur selten.

Zu meiner rechten liegt "Ellyson Hodges" und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf die Armlehne. Elly ist unsere Sportexpertin. Sie betätigt sich in der Leichtathletik und hat bereits an zahlreichen Wettkämpfen teilgenommen. Trotz so manchem Erfolg ist sie mit ihrer eigenen Leistung nicht zufrieden, wie sie selbst sagt. Ihr Traum und Lebensziel ist es, sich auf der Olympiade mit den Besten der Besten zu messen. Dass Geduld nicht ihre Stärke ist, war mir vom ersten Tag an klar. Sie hat mich angemotzt, weil ich bei der Registrierung meinen Ausweis nicht finden konnte und sie hinter mir auf mich warten musste. Jetzt, wo ich mich an ihre direkte Art gewöhnt habe, komme ich ganz gut mit ihr klar. Ihr ernster Blick und der Strenge Look sind für viele zu Beginn abschreckend, aber hinter der rauen Schale ist sie ein Geselliger Mensch, mit einem Gesunden Sinn für Sarkasmus.

Links neben mir liegt Alina. Ihr unzufriedener Blick wandert immer wieder zu Ellys trommelnden Fingern. Sie ist offensichtlich davon genervt, traut sich aber nicht etwas zu sagen. Die beiden verstehen sich nicht besonders und Zickereien zwischen ihnen sind nicht unüblich.

Neben ihr liegt Gerald und blickt verträumt zur Decke. Seine Finger trommeln ebenfalls, allerdings auf seinem Oberschenkel und im Gegensatz zu Elly, lautlos, fast so als ob er ein Instrument spielen würde.

Ganz links, auf dem letzten Platz, liegt “Debra Weston”. Sie meinte wir könnten "Debby" zu ihr sagen, aber die meisten nennen sie "Sonnenschein". Sie ist mit ihren 18 Jahren wohl die jüngste Teilnehmerin im Virtuell-Vacation Programm. Debby hat eine sehr lebhafte Persönlichkeit und predigt uns immer von der Kraft des positiven Denkens. Sie gibt vor immer fröhlich und gut gelaunt zu sein, aber ich habe den Eindruck, dass sie sich da die meiste Zeit über selbst betrügt. Es kommt mir vor, als würde sie damit irgendwelche negativen Erlebnisse oder Erfahrungen überspielen. Ich könnte mich da aber auch irren. Ihre zierliche Gestalt, die geringe Größe und ihr farbenfroher Kleidungsstil unterstreichen ihre kindliche Persönlichkeit und machen diese zu ihrer primären Charaktereigenschaft.

Die Anderen von uns sind in anderen Räumen auf die gleiche weise untergebracht. Immer in fünver Gruppen.

Bis auf den "Taucherhelm" sind wir schon an das System angeschlossen und unsere Lebenszeichen sind auf dem großen Monitor an der Wand sichtbar. Allerdings sitzen wir hier schon seit über einer Viertelstunde untätig rum. Die Techniker und Wissenschaftler nehmen noch letzte Kalibrierungen und Feineinstellungen an den Konsolen vor, überprüfen nochmal alles, stellen sicher das auch ja alles rund läuft. Der Professor hat sich schon zwei mal für die Verzögerung entschuldigt und uns um Geduld gebeten.

Ich bin angespannt, aber ich versuche es nicht zu zeigen. Einerseits bin ich mitgerissen von der Vorfreude der Anderen. Andererseits ist mir immer noch bewusst, dass wir hier Neuland betreten, und was-weiß-ich-nicht-alles schief gehen kann. Eine Verbindung über diese Technologie auf so hohem Niveau wurde noch nie gemacht. Mir kommen Alinas Worte in den Sinn: [Wir sind Pioniere!] Irgendwie haben die Worte nicht mehr dieselbe motivierende Wirkung wie zuvor.

[Entspann dich Nic', es ist nur ein Test] ... Meine Selbstmotivation ist nur wenig wirgsam. Ich wünschte auf der großen Anzeige wäre keine Uhr.
Es vergehen noch weitere 5 Minuten bis der Professor erleichtert aufatmet.

Professor: "So, ich würde sagen, wir sind endlich soweit. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat."

Debby: "Schon gut Professor."

Professor: "Also, wie schon gesagt, machen wir erst einen kurzen Testlauf und ihr taucht nach ein paar Minuten wieder auf. Wir werden erst mal sehen wie U.T.O.P.I.A. den Informations-Austausch zwischen der komplexen VR und eurem komplexen Gehirn bewältigt."

Einige der Assistenten machen sich daran uns die unförmigen Helme anzulegen. Der Professor spricht währenddessen weiter:

Professor: "Wir haben außerdem eine Sicherheitsmaßnahme eingerichtet. Wenn ihr innerhalb der Simulation diese Handbewegung vollführt ..."

Er hebt seine Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger und machte damit eine Bewegung abwärts, als ob er in einem Fahrstuhl auf alle Knöpfe drücken würde.

Professor: "Dann wird sich ein spezielles Menü öffnen. Für den Moment findet ihr dort nur die Anweisungen für den aktuellen Test und - ganz wichtig - den Notausschalter. Wenn ihr mal den Eindruck habt, dass in der VR etwas ganz gewaltig nicht stimmt, könnt ihr euch damit selbst aus der Simulation katapultieren. Betätigt ihn nicht leichtsinnig, da man damit gewaltsam aus der Simulation gerissen wird. Dies könnte unangenehme Folgen wie Schock, oder Trauma haben."

Während er redet, schweift mein Blick zu den großen Monitoren an der Wand, wo die übrigen Tester, die hier nicht anwesend sind, in ihren Räumen in Echtzeit zu sehen sind. Sie hören alles mit was bei uns passiert, aber wir hören sie nur wenn jemand eine konkrete Frage stellen möchte. Der Professor meinte am Anfang: “Damit ist gewährleistet dass alle die selben Information bekommen.” Aber ich vermute, er wollte sich nicht so oft wiederholen, was ich ihm nicht verübeln kann.

Professor: "Wie auch bei allen vorherigen Tests haben wir keinen direkten Einfluss auf die Simulation und können nicht mit euch interagieren, allerdings haben wir aufgrund eurer Gehirnwellen-Muster eine grobe Vorstellung davon, was ihr innerhalb der VR erlebt, sollten eure Vital-Werte kritische Parameter zeigen, werden wir euch vorzeitig aus der Simulation holen."

Ellyson: "Also alles wie immer. Können wir dann mal anfangen?"

Professor: "Ja, natürlich. Es geht gleich los."

Alina will anscheinend was darauf sagen, wird aber vom Techniker unterbrochen, der sich erkundigt ob ihr Helm bequem sitzt.

Wir sind bereit. Ich habe wieder den Eindruck, dass wir vor einem großen Ereignis stehen, obwohl es im Grunde ein Testlauf wie jeder andere ist.

Professor: "Auf gehts ..."

Ich verspüre wieder das kribbelnde Gefühl am Nacken, das von den dort angebrachten Elektroden auszugehen scheint, gefolgt von leichtem Schwindel. Nach ein paar Momenten spüre ich den Sitz unter mir nicht mehr, auch nicht die Elektroden, oder den Rest der technischen Ausrüstung, an die ich angeschlossen bin. Tastsinn, Gehör, Sehkraft ... meine Sinne werden einer nach dem anderen ausgeblendet. Es wird dunkel.


   Das Gefühl zu fallen, die beklemmende Unsicherheit, die Zeitlosigkeit ... ich kenne das alles schon.
Nach ein paar endlosen Momenten wird mir bewusst, dass ich eine körperliche Form habe. [Hände ... Füße ... Gut, ich kann mich bewegen.] Ich falle nicht mehr, ich sinke nur noch und meine Gedanken werden zunehmend klarer. Unter mir formt sich eine glatte Oberfläche, auf die ich langsam hinab gleite. Ich bleibe einen Moment lang auf dem Rücken liegen und schaue in die endlose graue Masse aus der ich gekommen bin. Dabei kommt mir ein Gedanke: [Der Limbus ...] Ein grenzenloses waberndes Meer aus "nichts", ohne Naturgesetze, ohne Regeln, ohne Form. Beim Ein- und Auftauchen hat man immer einen kurzen Blick darauf ... Überwältigend und beängstigend zugleich!

Ein Gefühl von Wärme überkommt mich, gefolgt von einer frischen Brise und dem Geruch von Laub und Blumen. Über mir leuchten nach und nach kleine Punkte auf, die im nächsten Augenblick von Baumkronen verdeckt werden. Grashalme kitzeln mein Gesicht und meine Hände, als ich langsam aufstehe. Die Umgebung um mich herum füllt sich mit dem Zirren von Insekten und dem Rascheln der Blätter. 

Die Simulation hat fertig geladen ... ich bin angekommen.

Ein beflügelndes Gefühl von Erleichterung überkommt mich. Immerhin ist die erste Verbindung geglückt, alles scheint soweit ordnungsgemäß zu funktionieren.

Ich stehe am Waldrand, vor mir erstreckt sich ein kleiner See. Der Nachthimmel, der mit seltsamen rot-gelben Farben durchzogen ist, spiegelt sich im Wasser. Trotz dem, dass kein Mond scheint, ist es überraschend hell. Es ist zwar immer noch eindeutig Nacht, aber ich sehe deutlich das andere Ufer. Eine sanfte Brise weht die kühle Luft vom Wasser zu mir hinauf. Für einen ersten Schritt in der neuen Welt ist die ganze Szenerie um einiges eindrucksvoller als ich erwartet habe. Die Simulierten Stimmulanzen wirken sehr real.

???: "Wow! ..."

Ganz in meiner Nähe ertönt plötzlich eine überraschte Stimme. Als ich mich umschaue, sehe ich nur ein paar Schritte von mir entfernt eine unbekannte Frau stehen. Ihre langen, schwarzen Haare sind ungewöhnlich altmodisch geflochten und sie trägt Kleider die ich sonst nur aus Geschichtssendungen kenne. Sie steht da und blickt in den farbenfrohen Himmel, der ein wenig an die Bilder von den Weltraum-nebeln erinnert, die in Astrologie Sendungen so gerne gezeigt werden.

Da wir uns noch keinen Charakter für das Spiel erstellen konnten, haben wir wohl zufällige Avatare erhalten. Sie ist offenbar jemand aus unserer Gruppe, ich weiß allerdings nicht wer.

Nicolas: "Schon beeindruckend, oder?"

Sie schaut hastig zu mir rüber.

???: "Ha? ... oh, ahm ... ja. Es sieht so ... echt aus."

Die Haltung, die Gestik, der scheue Blick ... Ich weiß direkt wer sie ist. Im Labor sind wir zwar räumlich getrennt, aber hier steht sie direkt neben mir, [schon irgendwie seltsam]. Erkennt sie mich auch?

Nicolas: "Ja, das wirkt viel realistischer als die VR´s in denen ich bisher war. Es gibt sogar wellen auf dem Wasser."

Meine Stimme klingt anders, viel tiefer als ich es gewohnt bin. Es fühlt sich seltsam an mit einer fremden Stimme zu reden. Ich hoffe, man kann sie später bei der Charaktererstellung anpassen. Meine Körpergröße scheint auch höher zu sein.

In der Nähe ertönen andere Stimmen, aber man kann nicht verstehen was sie sagen. Plötzlich läuft ein Stück entfernd ein junger kräftiger Bursche winkend aus dem Wald heraus zum Wasser und ruft laut:

???: "Heeeeey! ... "

Ich blicke in die Richtung in die er guckt. Nach ein paar Momenten sieht man deutlich wie auf der anderen Seite des Sees jemand zurück winkt. [Wie hat er ...] er hat sie doch nicht auf die Entfernung im Dunkeln mit bloßem Auge gesehen?!

Nicolas: "Hey, wie hast du die bemerkt?"

Er schaut sich nach mir um.

???: "Ganz einfach, man sieht andere Spieler auf der Map."

Er scheint Erfahrung darin zu haben, also wird es wohl entweder Collin oder Samuel sein. Ich gehe zu ihm rüber. Nina zögert kurz, kommt dann aber auch hinterher.

Nicolas: "Map, huh? Hmm, wie öffne ich das Menü?"

???: "Ganz simpel, weißt du noch, die Bewegung, die der Professor gezeigt hat? Das gleiche, aber nicht vertikal, sondern horizontal!"

Die Art wie er redet, die leicht gebeugte Körperhaltung [Er muss Collin sein]. Er führt die Bewegung vor und ich imitiere sie.

Vor mir erscheint ein bläulich leuchtender, transparenter Schirm auf dem die Abbildung meines Avatars (also meiner Spielfigur), eine Mini-Umgebungskarte (die sogenannte "Mini-Map") und andere Details wie Charakter Name, aktive Buffs oder Lebenspunktebalken aufgelistet sind. Am oberen Bereich ist eine Menüleiste für die übrigen Kategorien. Auf der runden Mini-Map ist in der Mitte ein grüner Punkt, der meine Position in der Welt symbolisiert. Drum herum ist eine Anzahl von hellblauen Punkten, die wohl die anderen Spieler sein müssen. Die Karte deckt aber nur einen kleinen Teil des Strandes ab, das andere Ufer kann man auch hier nicht sehen.

Links neben mir erkenne ich wie Nina ebenfalls ihr Menü inspiziert, auch Collin tippt etwas in der Luft, allerdings kann ich ihre Menü-Schirme nicht sehen. Dann sieht man meinen wohl auch nicht, gut zu wissen. Jetzt fällt mir auch auf, dass in der Menüleiste eine Registerkarte mit dem verlockenden Namen {Karte} ist. Ich tippe sie an und es öffnet sich ein neues Fenster. Die große Fläche in der Mitte ist hauptsächlich schwarz, bis auf einen kleinen Bereich - den, der auch auf der Mini-Map zu sehen war. Der Rest der Karte müsste wohl erst noch erkundet werden. Allerdings sind Grüppchen von blauen Punkten auch im schwarzen Bereich zu sehen, kreisförmig angeordnet, also offenbar um den See herum. Wenn ich einen von ihnen antippe, erscheint der Name der Person ...

{Spieler 18}, {Spieler 3}, {Spieler 9} ...

... Wir sind einfach durchnummeriert worden. Macht Sinn, wir haben noch keine eigenen Charaktere erstellt, also auch keine individuellen Namen eingegeben. Ich bin {Spieler 7}.

Das Manövrieren in den Menüs läuft hauptsächlich über Gesten, selten auch über Sprach-Befehle ab. Die meisten Gesten beinhalten, dass man Zeige- und Mittelfinger ausstreckt, dadurch weiß das System wann man etwas im Menü verändern möchte, und wann man einfach auf etwas irgend etwas zeigt.

Plötzlich hellt die Umgebung um uns herum auf und beginnt dann zu verblassen. Die Details der Spielwelt verschwinden eines nach dem anderen. Ich schaue mich noch mal in der Gegend um, die jetzt viel klarer zu erkennen ist, aber zunehmend karger und eintöniger wird. Ich will noch sagen [Bis gleich], aber meine Stimme ist schon weg, stattdessen winke ich, solange ich noch einen Körper hab. Die beiden vor mir winken zurück, bis sie sich auch auflösen. So schnell wie die Welt erstellt wurde, so schnell ist sie auch verschwunden.


Vom Limbus verschluckt ...


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