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Kapitel
6 - "Vorfreude"
Es ist 14:00 Uhr und ich bin hungrig.
Wir
wurden gebeten heute nicht vor dem Test zu Essen, weil das
irgendwelche Unstimmigkeiten bei den Testergebnissen verursachen
könnte. Ich hoffe das wird jetzt nicht zum Standartverfahren werden.
Wir
haben uns mit ein paar Leuten im Aufenthaltsraum getroffen, um von
hier aus zusammen zum Labor zu gehen, allerdings sind wir viel zu
früh dran.
Sammy
und Collin sitzen auf der Couch und diskutieren über die einzelnen
Spiel-Elemente. Obwohl meine Erwartungen für den heutigen Probelauf
gering sind, habe ich mich von der Begeisterung der Beiden anstecken
lassen. Überhaupt, ist es mal ein neues Gefühl sich auf einen Test
zu freuen, bislang empfand ich es bloß als anstrengend.
Raul
und Martha sitzen am Fenster auf den breiten Heizkörpern und
unterhalten sich ebenfalls über etwas, von allen Anwesenden wirken
sie am entspanntesten. Raul sieht aus, als würde er versuchen mit
Martha zu flirten, sie hingegen wirkt gelassen. Entweder merkt sie es
nicht, oder sie ignoriert es. Dabei fällt mir auf, dass ich gar
nicht weiß ob sie verheiratet ist. Da sie Kinder hat, hatte ich das
angenommen, aber eigentlich hat sie das nie gesagt. Ich habe bisher
nicht darauf geachtet, aber jetzt fällt mir auch auf, dass sie
keinen Ring trägt. [Naja, es geht mich ja auch nichts an.]
Nina
steht abseits von allen an der Wand angelehnt und schaut
geistesabwesend auf die eigenen Schuhe.
Lindsay
sitzt an ihrem gewohnten Platz am Kaffeetisch. Sie hat ihr Buch
dabei, aber es ist zugeklappt, stattdessen schaut sie sich im Raum um
und hört unauffällig den Gesprächen zu. Selbst in ihren Augen ist
heute eine leichte Aufregung zu sehen. Steckt in unserer
Eisprinzessin vielleicht doch eine leidenschaftliche Zockerin? Das
wäre eine Überraschung.
Vor
der Tür unterhält sich Alina mit "Marcell Dubois" und
"Gerald Richards", unseren beiden lokalen
Künstler-Berühmtheiten.
Gerald
ist Musiker, er spielte Saxofon in einer Retro-Band, bevor sich diese
auflöste. Heute ist er fasst 40 und nennt er sich “freischaffender
Künstler”, was in etwa bedeutet, dass er auftritt, wann immer er
die Möglichkeit bekommt. Er gab mal mit nicht geringem Stolz zu, das er eine zeitlang auch in
Ubahn-Unterführungen gespielt hat, als es finanziell mal ganz knapp
wurde. Er sieht die Welt auf eine tragisch-romantische Art, wie es
wohl die meisten Künstler tun, und philosophiert gerne mal über den
Sinn, oder Unsinn, von aktuellen Weltereignissen. Seine gelassene,
ich würde sogar sagen “gleichgültige” Art, lässt ihn oft
gelangweilt oder desinteressiert erscheinen, aber das täuscht. Was
sein Erscheinungsbild angeht, so kann man das mit einem Wort als
“Retro” bezeichnen, wobei sein Look vermutlich älter ist, als er
selbst.
Marcell
hingegen ist eher der moderne Mensch und ist in Fachkreisen für
seine abstrakte Kunst bekannt. Sein bekanntestes Werk ist ein Zimmer
in dem er mehrere Tausend bunt angemalter Strick-Fäden gespannt hat, die aus bestimmten Winkeln betrachtet komplexe Muster ergeben. Der
Raum hat nur zwei Fenster; während man durch das eine nur
geometrische Formen sehen kann, ist durch das Andere die Szenerie
einer Familie beim Frühstückstisch erkennbar. Ziemlich genial, wie
ich finde. In seiner Freizeit trägt er meist einfache, aber
zeitgenössische Kleidung, zu besonderen Anlässen auch mal was
ausgefalleneres. Er ist einer Unterhaltung nie abgeneigt, versucht
aber meist der Führer des Gespräches zu sein. Man sieht ihn nicht
selten mit Gerald, abseits der Anderen, in einem Gespräch vertieft.
Während
die beiden darüber reden wie man sich innerhalb des Spiels
künstlerisch entfalten könnte, hört Alina ihnen mit
überschwänglicher Begeisterung zu und kommentiert alles.
Ich
sitze auf dem Sessel in der Mitte des Raums und blättere durch die
Video-files meines Pads, in dem Versuch die Zeit tot zu schlagen.
Wenn
man auf etwas wartet, vergeht die Zeit besonders langsam, ich kann es
mir nicht verkneifen ständig auf die Uhr zu gucken.
Collin:
"Yo, Leute ... Was wollt ihr eigentlich so machen, wenn wir erst
mal im Spiel sind?"
Collins
Aufruf ist für alle überraschend. Die Anwesenden schauen sich
einige lange Momente lang an, aber niemand traut sich als erster
etwas zu sagen. [Soll ich das Eis brechen?] Ich schalte demonstrativ mein Pad aus
um zu zeigen, dass ich damit fertig bin und lege es auf die
Sessellehne.
Nicolas:
"Also, ich werde zu einem bösen, tyrannischen Herrscher und
werde euch alle versklaven!"
Heiteres
Gelächter bricht im Raum aus.
Collin:
"Ja, nee ... ist klar!"
Sammy:
"Alter, du hast zu viele Mangas gelesen."
Ich
gebe mir Mühe eine ernste Miene zu behalten, aber es ist schwer, da
das Lachen der Anderen ansteckt.
Nicolas:
"Lacht ihr nur ... so lange ihr noch könnt ..."
Martha
wirft lachend ein Päckchen Taschentücher nach mir. [Was sollte
das?] Findet sie mich zu albern?
Ich
stecke das Päckchen demonstrativ, mit möglichst ernstem Blick ein.
Martha:
"Hey, das sind meine!"
Nicolas:
"Damit lasse ich euch eure Tränen aubwischen, wenn eure Unterwerfung besiegelt ist!"
Zum
Schluss kann ich mein eigenes Lachen kaum noch zurück halten.
Alina:
"Dann werde ich die strahlende Heldin sein, die dich aufhalten
wird!"
Sie schmeisst sich in eine kitschig-heroische Pose und zeigt herausfordernd mit dem Finger auf mich.
Die
Reaktion, auf die ich gehofft habe ...
Nicolas:
"Eine strahlende Heldin, ohne Gefährten? Das vergiss mal lieber
wieder!"
Das Leuchten in ihren Augen verrät, das sie Spas an dieser Scharade hat.
Alle anderen schaun wieder auf sie, in Erwartung wie sie das kontert.
Alina:
"... Wer wird mich begleiten bei diesem glorreichen Unterfangen?
Lasst uns gemeinsam den Tyrannen stürzen!"
Alina
schaut fragend in die Gruppe, während sie mit triumphaler Geste die
Faust ballt. Die klischeehaften Worte sind an sich schon lustig, aber
durch ihren russischen Akzent wirken sie noch alberner.
Sammy
ist der erste der in übertrieben glorreicher Pose verkündet:
Sammy:
"Ich werde der Meisterschurke sein, der dir alle Türen öffnet!"
Die
anderen lassen nicht lange auf sich warten ...
Collin:
"Ich werde der Priester sein, der alle deine Wunden heilt!"
Marcell:
"Dann übernehme ich die Rolle des Magiers. Jede Heldengruppe
braucht einen Magier!"
[Versuchen
die sich gegenseitig zu übertrumpfen?] In jedem Fall scheint mein
Vorhaben zu klappen, die allgemeine Anspannung verflüchtigt sich,
auch meine.
Gerald:
"Dann werde ich der Barde sein, der deine Siege besingt ..."
Er
deutet mit einer Geste ein Seiten-Instrument an.
Raul
wollte offenbar auch etwas sagen, hat sich nach einem hastigen Blick
zu Martha aber doch anders entschieden.
Nicolas:
"War ja klar, dass alle Kerle auf deiner Seite sind ... Dann
nehme ich eben die Mädels zur Unterstützung!"
Ich
deute der Reihe nach auf die Damen im Raum.
Nicolas:
"Lindsay, die gefürchtete Eis-Magierin!"
Ich
finde es amüsant, Lindsay ohne Vorwarnung in ein Gespräch
einzubeziehen. Ihr überrumpelter Gesichtsandruck ist Gold wert, aber
das sagte ich ja schon.
Nicolas:
"Nina, die Herrin der Wälder."
Nina
blickt sich mit verwirrtem Lächeln um. Sie weiß offenbar nicht, wie
sie darauf reagieren soll.
Nicolas:
“Und Martha ... die unerschrockene ... ähm ... Köchin!"
Martha:
"Das hättest du wohl gerne?! ..."
Die
Reaktion war vorhersehbar.
Ich
werfe ihr das Taschentuch-Päckchen zurück.
Nicolas:
"Nicht? Was hast du dann für die zwei Monate geplant?"
Martha:
"Ooch, Spiele zu spielen, das ist was für euch jungen Leute.
Ich werde mich überraschen lassen und die Dinge nehmen, wie sie
kommen."
Sammy:
"Also doch unsere Köchin ..."
Diesmal
kriegt Sammy die Taschentücher ab.
Nicolas:
"Naja, den Beruf gibt es ja wirklich im Spiel."
Martha:
"Warum soll ich in ein virtuelles Paradies flüchten, nur um
dort genau dasselbe zu tun, was ich sonst jeden Tag auch mache?"
Collin:
"Da ist was dran."
Ich
sehe im Augenwinkel, wie Alina zwar immer noch lächelt, aber dabei
etwas nervös von einem Fuss auf den anderen Tritt. Ich schätze sie
übelegt, wie sie die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkt.
Marcell:
"Du solltest die Gelegenheit nutzen, um deine kreative Ader zu
finden. In dir steckt bestimmt eine Menge unterdrücktes
Potenzial."
Martha:
"Willst du etwa mein Lehrmeister sein?"
Sie
sagt es mit einem spöttischen Ton.
Marcell:
"Es wäre mir eine Ehre!"
Er
deutet eine Formelle Verbeugung an.
Wir
albern noch ein wenig herum und die Zeit die eben noch im
Schneckentempo vorbei kroch, vergeht plötzlich wie im Flug. Nach
einer knappen halben Stunde machen wir uns ins Nachbargebäude auf,
wo sich hinter strengen Sicherheitsmaßnahmen und ebenso strengen
Blicken die wissenschaftlichen und technischen Anlagen befinden. Der
Wohnkomplex ist vier Stockwerke hoch, mit der Kantine im Erdgeschoss.
Hinter der Scheibe sieht man von draußen das eifrige Küchenpersonal,
das nach dem Mittagstisch die Kantine aufräumt. Der verlockende
Geruch von Essen schwebt immer noch in der Luft, aber ich kann nicht
sagen was es gab. Irgendwas mit Gemüse.
Dort,
in der Passage zwischen den Gebäuden, treffen wir auf Tamirat. Er
sitzt auf seinem gewohnten Platz auf der schmalen Parkbank und geniesst das bisschen Natur, das die Anlage zu bieten hat.
Sammy:
"Tam', wir haben darüber gesprochen, wer was sein will in der
Simulation. Wie steht es mit dir, schon eine Idee?"
Tamirat
lässt ein paar schweigsame Momente vergehen. Solche kreativen Pausen
machte er beim Reden gerne. Damit gewehrleistete er auch, dass ihm
alle zuhörten.
Tamirat:
"Wenn der Traum es mir erlaubt, wäre ich gerne Jäger, wie in
meiner Jugend. Ich vermisse die Jagt!"
Nicolas:
"Ich denke, da kannst du zuversichtlich sein."
Während
wir uns gemeinsam ins Labor begeben, kommt mir eine Idee. Ich finde
einen Moment in dem die neugierigen Ohren der anderen abgelenkt sind:
Nicolas:
"Tamirat, ich hätte da eine Frage ..."
Meine
Stimme ist absichtlich leiser. Tamirat sagt nichts, deutet mir aber
mit einer Geste an, dass er zuhört. Er hat sofort verstanden, dass
es nicht jeder hören muss. Seine Auffassungsgabe ist verblüffend,
obwohl er blind ist ... oder vielleicht eher gerade deswegen.
Nicolas:
"Ich habe Nina empfohlen die Jäger-Klasse zu spielen, ich denke
das würde ihrem Charakter gut tun, ihre Persönlichkeit stärken
..."
Er
nickt zustimmend.
Nicolas:
"... Meinst du, du könntest sie am Anfang etwas bei der Hand
nehmen, ihr die Grundlagen der Jagd beibringen, oder so? Ich hoffe,
dass sie dadurch zu mehr Selbstsicherheit findet."
Tamirat:
"Nur wenn sie das auch möchte."
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