Kapitel 11 - "Von Hexen und Krähen" (Unbearbeitet)

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Kapitel 11 - „Von Hexen und Krähen“


   Ich wälze mich nun schon seit fast einer Stunde im Bett umher. Es ist eine dieser Nächte, in denen man einfach keine bequeme Position zum Einschlafen findet. Zudem drehen sich die Ereignisse des Tages ununterbrochen in meinem Kopf umher. Das erste was mir auffiel als ich nach der Simulation an die frische Luft ging, war: „Die Luft riecht anders“. Es fühlte sich auch recht seltsam an, vom Sonnenaufgang sofort zum Sonnenuntergang zu wechseln. Es kam mir so vor, als wäre mir was entgangen...

[… Das funktioniert nicht!]

Die Schlaflosigkeit ist anstrengend! Ich stehe auf, ziehe mich genervt an und begebe mich zum Getränkeautomaten im Aufenthaltsraum. Ein beiläufiger Blick auf die Uhr verrät mir, das es kurz nach Mitternacht ist.

Es ist überraschend, das ich noch so fit bin. Normalerweise erschöpfen mich die Tests, besonders welche die so lang andauern, aber heute fühle ich mich eher erholt. Vielleicht hatte Alina doch recht, und das ist unser verdienter Urlaub. Davon Abgesehen mussten wir nicht, ständig immer wieder mühselig aus der VR auftauchen, wie es sonst der Fall ist. Sogar das heitere, gemeinsame Abendessen, wo alle ihre Eindrücke miteinander teilten, kam mir anstrengender vor, als die Simulation selbst. Was aber auch daran liegen könnte, das ich sozialen Umgang generell als anstrengend empfinde.

Als ich mich dem Aufenthaltsraum nähere, sehe ich das darin Licht brennt, man hört auch jemanden reden. Ich bin nicht in der Stimmung für Konversation, aber vielleicht komme ich ja mit einer simplen Begrüßung davon …

Im geräumigen Raum sind drei Frauen, die sich bei Tee und Gebäck heiter unterhalten. Wohl bekannte Gesichter, bei denen man es mittlerweile gewohnt ist, sie stendig zusammen zu sehen. Sie sind hier so was wie das örtliche Nachrichtenzentrum. Sämtlicher Klatsch und Tratsch scheint bei ihnen zusammen zu laufen. Wenn man möchte das etwas schnell bekannt wird, sollte man es denen erzählen. Sammy nennt sie „Die Krähen“, was irgendwie passend klingt, obwohl ich nicht verstehe waram.

[Sie werden sich nicht mit einer simplen Begrüßung abspeisen lassen.]

Ich überlege kurz, ob ich es mir nicht ersparen und einfach in mein Zimmer zurück gehen soll, aber das Bedürfnis nach einem Kaffee ist stärker.

Ich betrete den Raum mit einem heiteren Gruß, der mich ein wenig Überwindung kostet.

Nicolas: „Guten Abend die Damen! Oder eher gute Nacht, wenn man die Uhrzeit bedenkt.“

Ich habe augenblicklich ihre überraschte Aufmerksamkeit. Sie haben sich den niedrigen Tisch und einen Stuhl zur Couch gestellt, wohl um die Runde gemütlicher zu machen. Auf dem großen Plasmabildschirm flackert irgendeine antike Serie, allerdings ohne Ton.

Ich mache kein Geheimnis aus meinen Absichten und begebe mich direkt zum Getränkeautomat, wehrend ich von ihnen zurück gegrüßt werde:

Cassy: „'Nabend, Nicolas. Nah, kannst du nicht schlaffen?

Nicolas: „Nee, ich krieg einfach den Kopf nicht leer ...“

„Cassandra Wilkox“, grüßt mich mit strahlenden Augen, wobei sie eine edel-bemalte Tasse in der Hand hält. Diesen Blick hat die übermäßig geschminkte Kanadierin immer, wenn sie die Hoffnung auf Neuigkeiten hat. Sie ist ein echter Gerüchte-Junkie. In ihrer Jugend war sie bestimmt hübsch ...

Cassy ist teil des Programms, weil jemand offenbar viel Geld dafür gezahlt hat, sie rein zu bringen. Ich persönlich finde dass dieses, fast fünfzigjährige, unreife Kind, keinerlei Qualifikationen hat, hier zu sein. Sie nimmt die Tests nicht ernst, ist ständig krank gemeldet und stiftet Unfrieden zwischen den Anderen. Man muss wirklich aufpassen was man ihr erzählt.

Olivia: „Na das war ja auch ein aufregender Tag heute!“

Nicolas: „Das kann man wohl sagen … “

Die leicht übergewichtige Dame mittleren Alters heißt „Olivia Portman“ und ist in ihrem Heimatort, in Australien, als erfahrene Heilpraktikerin bekannt (Zumindest behauptet sie das). Sie gibt oft damit an, Neurologie studiert zu haben, allerdings weiß ich nicht ob sie tatsächlich ein Diplom hat. Auf jeden Fall betreibt sie ein Studio (Sie nennt es Praxis), in dem sie überwiegend Meditationskurse anbietet. In den ersten Wochen versuchte sie sogar hier unter den Testern eine Meditationsrunde zu gründen. Aber soweit ich weiß, hatte sie damit keinen Erfolg. Ich konnte mit diesem Yin-Yang-Zeug noch nie viel anfangen.

Gelegentlich sehe ich sie an sonnigen Tagen draußen in Lotus-Pose auf der Wiese sitzen. Es kommt mir aber eher so vor, als würde sie das machen, um beachtet zu werden und nicht um der spirituellen Erleuchtung willen.

Salome: „Das heute, war aber erst nur der Anfang ...“

Die dritte und letzte in der Runde ist „Salome Cordali”. Sie ist ebenfalls aus der Fachrichtung der Neurologie, scheint es damit aber ernster zu meinen als Olivia. Zumindest weiss ich mit Sicherheit das Sie ihren Doktortitel schon hat und das sie in der Forschung tätig ist und nicht selbst behandelt. Obwohl sie aus Indien kommt, sieht sie für mich nicht indisch aus, eher wie jemand aus dem nahen Osten. Ich kann mich aber auch irren...

Von den dreien wirkt sie am gelassendsten und ist mehr die Zuhörerin. Ich würde sagen, sie ist zugleich die Jüngste und auch die Reifeste in der Runde.

Nicolas: “Ja, der wirklich ernste Teil kommt noch.”

Ich sollte jetzt entweder mit einer guten Ausrede verschwinden, oder die Führung des Gesprächs übernähmen indem ich anfange Fragen zu stellen. Anderenfalls werden die das tun. Ich entscheide mich für das Erste.

Nicolas: “Na gut Mädels, dann will ich euch mal nicht länger stören. Ich hab noch einen Haufen Lektüre durchzuwälzen, bevor der Grosse Test beginnt.”

Das war nicht komplett gelogen, ich wollte wirklich noch einiges nachschlagen, aber es musste nicht unbedingt jetzt sein.

Cassy: “Was? Du läufst von uns wieder weg? ...”


[Ich wurde durchschaut ...]

Cassy: “... Bleib doch hier. Bei uns gibt es Plätzchen.”

Sie hebt mit ihrer freien Hand die Metalldose hoch und wedelt damit verlockend.

Es gibt wohl keine elegante Art sich von ihr losszureissen. Ich imitiere mit meiner Antwort etwas, was sich wie eine Hexe anhören soll:

Nicolas: “Komm zu mir, Kind. Bei mir gibt es Kekse!”

Damit hat sie nicht gerechnet! Ihre Verwunderung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Es dauert ein Paar Sekunden, dann bricht Clara als erstes in schallendem Gelächter aus.

Clara: “Lauf! Lauf, so lange du noch kannst ...”

Salome stimmt mit ein.

Salome: „Du hast Glück, das wir hier keinen Ofen, haben! ...“

Der Witz ist wohl angekommen, nur Cassy sieht aus, als könnte sie sich nicht entscheiden ob sie mitlachen soll, oder nicht. Der Scherz ging ja schließlich auf ihre Kosten und ich habe das Gefühl, das sie sich revongieren wird.

[Wie dem auch sei …] Ich nutze die Gelegenheit, setze ein Gesichtsausdruck mit gespielter Panik auf und flüchte theatralisch aus dem Raum, wobei ich fast meinen Kaffee verschütte.

[Ich hoffe, wir haben niemanden geweckt ...]


   Zurück auf meinem Zimmer entschließe ich mich meine Halb-Lüge zu einer Ganz-Wahrheit zu machen und mir ein paar Beschreibungen zu einigen Spielmechaniken durchzulesen. Insbesondere war ich häute vom realistischen Verhalten der Dorfbewohner überrascht. Wir haben sie zwar nur aus der Entfernung gesehen, aber die Atmosphäre eines geselligem Dorflebens wirkte schon sehr überzeugend.

In einem der zahlreichen Artikeln zu dem Spiel war mal erwähnt das die Entwickler von „Vortex“ ein Hilfsprogramm verwenden, das für die realistische Darstellung von allen möglichen Lebewesen gedacht ist. Ich habe schon mehrmals gehört, dass es recht beeindruckend sein soll. [Wie hieß es nochmal?] Ich suche den Artikel mit den Infos raus.

[Ah, hier: „Virtual Live 3.5“.] Eine schnelle Onlinesuche bringt mich auch ohne Umwege auf ihre Hauptseite.

Nachdem ich die Seite grob überflogen habe, stelle ich eines mit Sicherheit fest: [Die machen keine halben Sachen!]

Die erste Version ihrer Software kam bereits vor über 10 Jahren auf den Markt und beschränkte sich lediglich darauf, NPC,s eine Routine zu geben, der sie innerhalb der Simulation folgen sollen. Im Grunde war das das Basisverhalten, an das ich mich bei Spielen schon gewöhnt habe.

Dann fügten sie das gleiche für Tiere hinzu. Zunächst nur einfache Sachen, wie Jagd-, Schwarm-, oder Rudel- Verhalten. Später auch das Verhalten von Zugvögeln, Paarungsrituale, Rivalität um den Platz als Rudel-Führer und so weiter …

Dann brachten sie Komplexere Verhaltensweisen für NPC´s raus, damit konnten sogar zufällig generierte Charaktere völlig individuell auf den Spieler, oder auf die eigene Umgebung reagieren. Dies baute auf unzähligen Befragungen und Persönlichkeitstest auf, die mit Freiwilligen gegen Bezahlung durchführt wurden. Das war dann „Version 2.0“ und hat damals für Aufmerksamkeit gesorgt.

Aber vor einigen Jahren gelang ihnen mit „v. 3.0“ der Durchbruch. Sie nutzten die neue Technologie, zur Erfassung von Gehirnwellen, die der wachsende Markt des Ciber-Divings anbot. Damit begannen sie, anhand der aufgezeichneten Gehirn-Aktivitäten, völlig realistische Virtuelle Personen zu erschaffen, die tatsächlich realen Personen nachempfunden waren.

Ihr neuestes 3.5 Update ermöglicht es den Spielentwicklern sogar nicht nur bereits vor-generierte Kopien zu verwenden, sondern auch durch ein Baukastensystem genau die Persönlichkeit zu basteln, die sie gerade brauchen. Natürlich gilt alles davon auch für Tiere …

Mir kommt wieder der Frosch und all die anderen Tiere, die ich entdeckt habe, in den Sinn. [Jedes von ihnen verhält sich wie ein echtes Tier … ]

Jetzt wo ich das lese, erinnere ich mich an den Tumult, den dieses Unternehmen verursachte. Es gab ernste Bedenken, inwiefern das moralisch vertretbar ist und ob der Mensch sich da nicht anmaßen würde, Gott zu spielen. Das Unternehmen gewann damals den Prozess mit wehenden Fahnen, mit der Begründung, das es doch nur „unselbständige Programme“ sind, „die kein eigenes Bewusstsein haben“. Seither hat sich niemand mehr dagegen aufgelehnt, es gab nur lediglich von manchen Seiten vorsichtige Kritik. Für die Entwickler von Spielen und anderen Vergnügungs-Simulationen bedeutete das einen gewaltigen Sprung in Sachen Realismus und Imersion … Wenn sie es sich leisten konnten!

Ich selbst hatte bisher noch nicht das Vergnügen so einen NPC zu treffen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen dass sie so echt wirken, wie es hier versprochen wird. Das ist allerdings sicherlich etwas, worauf ich mich freue es auszutesten.

[Wie viel da wohl noch fehlt, bis sie sich ihrer selbst bewusst werden?]

Ich klicke zur nächsten Seite, aber so langsam spüre ich, wie mich die Bürde des Schlafes überkommt. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, hatte Kaffee auf mich schon immer einen gegensätzlichen Effekt. Als ich mich erneut ins Bett lege, fühlt es sich so viel bequemer und gemütlicher an als noch vor einer Weile.

Beim geschmeidigen Einsinken in die Traumwelt drängt sich mir eine letzte Frage auf:

[Wenn sie wirklich so realistisch sind, was unterscheidet uns dann noch von ihnen?]

Aber wenn ich den Gedanken weiter verfolge, dann finde ich heute Nacht gar keinen Schlaf mehr ...

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