Der
Tag begann heute mit einem leichten Frühstück und anschließender
Instruktion im Aufenthaltsraum. Wir wurden darüber belehrt, wie die
neuen Sessel funktionieren. Dabei diente der große Bildschirm für
eine graphische Präsentation. Danach kamen Erklärungen über den
Ablauf des Vortex-Spiels, hauptsächlich technische Details.
Das
meiste davon ist für uns vermutlich ohnehin irrelevant, aber ich
fand es interessant zu erfahren, wie weit die Entwickler auf die
Simulation Einfluss nehmen können. Offenbar liegt ihre Grenze
überall dort, wo sie mit den Spielern direkt interagieren würden.
Sie können also nur auf subtile weise Änderung am Spiel vornähmen,
während die Spieler eingeloggt sind. Anderenfalls würden sie die
Balance des Traum-Paradigmas behindern, was für uns unangenehme
Folgen haben kann. Es ist ihnen aber möglich zu beobachten. Während
wichtigen Ereignissen, wie Spiele-Events oder Boss-Kämpfen, können
wir davon ausgehen, dass man uns über die Schulter guckt.
Zum
Glück gibt es auch Game-Master innerhalb des Spiels, die einem zu
Hilfe eilen, wenn man Probleme hat. [Alles fast wie bei einem
normalen Online-Spiel.]
Danach
zerstreuten wir uns auf unsere Quartiere, um letzte Vorbereitungen zu
treffen.
Der
sanfter Duft von Essen steigt aus der Kantine sogar bis hierher, in
den Aufenthaltsraum und erinnert uns daran, dass es Mittagszeit ist.
Aber niemand ist hungrig. Die Aufregung vor dem großen Ereignis
vertreibt jegliches Hungergefühl, was gut ist, da wir ohnehin
gebeten wurden nichts zu essen. Die meisten von uns haben sich heute
hier eingefunden, weil wir eh nichts Besseres zu tun haben, während
wir auf den Beginn des Betatests warten. Der Raum ist voll und die
Atmosphäre hektisch und angespannt. Alle hier sind in heller
Aufregung, selbst die die sich sonst für Gewöhnlich gleichgültig
zeigen.
Harry,
Marcell und Alina stehen am Fenster und unterhalten sich energisch,
man kann aber nicht sagen worüber. Harry macht sich nebenbei Notizen
in seinem Block. [Sehr Altmodisch.] Man hat ihm nicht gestattet,
Interviews vor Abschluss der Testphase zu nähmen, aber er tut es
trotzdem heimlich. Von uns stört es keinen, da er das nötige
Feingefühl hat, um nicht aufdringlich zu sein.
Der
Krähen-Schwestern (Sammys neueste Spitzname für sie) stehen
draußen, etwas von der Tür entfernt. Sie schauen beim Reden immer
wieder zu zu uns rüber, offenbar lästern sie über jemanden.
Selbst
die immer entspannte Martha ist heute sichtlich aufgeregt. Offenbar
haben wir sie mit unserer Euphorie angesteckt. Sie, Raul und Elly
belagern die Couch und besprechen ebenfalls etwas.
Lindsay
sitzt an ihrem gewohnten Platz, sie war heute vor allen anderen hier.
Neben ihr steht Tamirat. Die beiden scheinen einen entspannten
Wortwechsel zu führen, wobei überwiegend Tamirat spricht. [Ich
frage mich worüber sie reden.]
Es
sind auch Leute da, die man nur selten zu Gesicht bekommt, wie
„Ibrahim Roseberg”. Ein junger, Israelischer
Geschäftsmann, der von seinem Fater ins Program gebracht wurde um
aus erster Hand zu sehen, ob die neue Technologie kommerzielles
Potenzial hat. Ein hochnäsiger, arroganter und eingebildeter
Schnösel, keiner mag ihn. Ich persönlich habe kein Problem mit ihm,
aber er scheint ein Problem mit allen anderen zu haben. Selbst jetzt
siet er so aus als würde er alle im Raum verachten. [Naja, fast alle
...] Die einzige mit der er sich zu verstehen scheint is Linday, die
ihm aber nicht weniger die kalte Schulter zeigt, als allen Anderen.
[Vielleicht sieht er sie ja als gleichgestellt, oder sowas ...]
Mit
mir am Tisch sitzen: Sammy, Collin, Gerald und Nina. Wir sind
vermutlich die lautesten hier. Collin und Sammy waren bestürtzt, als
sie heute morgen erfuhren, das für die anderen sechshundertfünfzig
Spieletester, der Betatest bereits vor vier Tagen begonnen hat. Da
diese Leute direkt von den Entwicklern von “Vortex” angehäuert
wurden und sich weder über das U.T.O.P.I.A. System einlogen, noch
sonst irgendwas mit uns zutun haben, sind sie auch nicht an unsere
Termine gebunden. Für unsere beiden Pro-Gamer hier, geht es nun
darum, wie man die Anderen am schnellsten einholt.
Nicolas:
“Ich verstehe nicht, worüber ihr euch da Sorgen macht. Ich sehe
das ganz simpel: Die werden sich bloss über die reguläre Hardware
einlogen, das heisst maximal sechseinhalb Stunden Am Tag, während
wir rund um die Uhr eingeloggt sind. Selbst ich, mit meiner
entspannten Spielweise, werde sie früher oder später überholen!”
Collin:
„Du verstehst das nicht, das sind Profis! ...“
Nicolas:
„Na und? Du doch auch!“
Ich
appelliere an seinen Stolz.
Collin:
„Nein, man. Das ist 'ne andere Liga! Die werden richtig dafür
bezahlt!“
Nicolas:
„Bezahlt werden die, um das Spiel zu testen, nicht um zu
power-leveln!“
Sammy:
„Darum geht es nicht. Wenn so ein Spiel auf den Markt kommt, dann
gibt es immer haufenweise was zu entdecken. Wo, welche Zutaten für
Tränke zu finden sind, welche Gegner die besten Items abwerfen,
versteckte Quest, Angriffsverhalten von Endgegnern … all so'n
Zeug.“
Nicolas:
„Und wo ist das Problem? Ist ja nicht so, dass die Sachen weg sind
wenn sie jemand findet, das respawnt doch alles.“
Sammy:
„Ja, aber wenn du so was als erstes raus findest, dann kannst du
dir damit einen Namen machen.“
Collin:
„Verstehst du? Wer sich eine goldene Nase verdienen konnte, hat das
schon getan.“
Sammy:
„DAS einzuholen ist schwierig. Es ist nicht bloß das level ...“
Collin:
„Vor allem, wo die Anfangsgebiete jetzt schon abgegrast sind.“
Nicolas:
„Ah, jetzt verstehe ich. Die entdeckten Sachen verschwinden zwar
nicht, aber „entdeckt werden“ können sie nur ein mal ...“
Collin:
„Genau!“
Collin
ist sichtlich aufgeregter als alle anderen. Er wirkt fast so, als
wäre er auf Entzug.
Nicolas:
„Und was ist dann euer Plan?“
Collin:
„Wir müssen eine gut ausgewogene Gruppe bilden und die ganzen
Anfänger-Quests überspringen. Wir machen nur die wichtigsten, das
erspart uns eine Menge Zeit! Machst du mit?“
Nicolas:
„Ich? Nee, lass mal … ich hab noch nie vorher ein MMOVRPG
gespielt, ich wäre euch nur ein Klotz am Bein!“
[Außerdem
will ich da nicht einfach wie ein Irrer durch-hetzen, ich will es
genießen.]
Ich
blicke zu dem ungleichen Paar am Kaffeetisch und stelle sicher das
keiner von beiden gerade spricht...
Nicolas:
„ ... Aber nehmt doch Lindsay mit, die kann das bestimmt voll gut!“
Lindsays
blick ist nicht ganz so überrascht wie sonst, offenbar gewöhnt sie
sich langsam daran ohne Vorwarnung von mir in eine Unterhaltung rein
gezogen zu werden. Vielleicht mache ich es einfach zu oft … [Aber
es macht Spaß! ...]
Sammy:
„Uh, die gefürchtete Eisprinzessin!“
Sie
reagiert gelassen.
Lindsay:
„Legt euch nicht mit mir an, ich friere euch alle ein ...“
Ihre
Stimme ist kühl aber nicht unfreundlich.
[Kommt
es mir nur so vor, oder gefällt ihr ihr neuer Titel?] Davon
abgesehen ist sie heute nicht ganz so abweisend wie sonst. Oder liegt
das bloß an der ungewöhnlich heiteren Atmosphäre.
Alina:
„Professor Moldwood!“
Im
Raum wird es ruhig und alle schauen in Richtung Tür, wo der der alte
Mann mit strahlenden Lächeln steht.
Professor:
„Hallo, alle miteinander!“
Sammy:
„Wie sieht es aus, Prof', ist schon alles bereit?“
Professor:
„Oh, es ist schon seit zwei Stunden bereit, seither haben wir die
Zeit genutzt, um alles nochmal doppelt und dreifach zu überprüfen.“
Die
sind vor dem Zeitplan fertig geworden, dabei hatte ich erwartet das
sich alles verspäten würde. Ich bin ehrlich überrascht.
Harry:
„Und, können wir los?“
Professor:
„Wir haben von allen Stellen grünes Licht bekommen.“
Collin:
„Worauf warten wir dann noch?!“
Professor:
„In der Tat, wir können loslegen!“
Er
verkündet es freudestrahlend. Es ist nicht zu übersehen, das er
mindestens genau so aufgeregt ist, wie wir. Leichter Jubel und
Beifall erschallen im Raum, und mir kommt es vor, als würde uns eine
Reise ins Weltall bevorstehen.
Der
Weg durch die Gänge des großen Laborkomplexes fühlt sich heute
fremd an, zum Einen weil hier überall noch die alten Gerätschaften
im weg stehen, zum Anderen weil wir nicht zu den Üblichen Räumen
unterwegs sind. Der Professor führt dabei unsere Gruppe an, wie ein
Fremdenführer. Ihm fehlt dafür nur noch ein langes Fähnchen in der
Hand.
Debby,
die ganz vorne geht, unterhält sich freudestrahlend mit dem alten
Mann. Von uns allen ist sie dem Professor am ehesten aufgeschlossen,
man könnte sogar sagen „fürsorglich“. Sie fragt ihn
gelegentlich ob er ausreichend schläft, oder ob er an dem Tag schon
was gegessen hat. Wüsste ich es nicht besser, würde ich vermuten,
dass sie seine Enkeltochter ist, aber der Professor war nie
verheiratet. Er widmete sein Leben stattdessen der Forschung … oder
vielleicht auch eher gerade deswegen.
Als
sich die großen Türen, mit den Warnschildern drauf, vor uns öffnen,
kann ich das, was dahinter folgt, kaum als Raum beschreiben. Es ist
ein Saal! Die Wände sind dekoriert mit Bildschirmen,
Bedienungskonsolen und anderen technischen Geräten. Die Decke ist
ungewöhnlich hoch und erlaubt ein zweites Stockwerk, das aber nur
aus schmalen Gehwegen besteht und mit Geländern versehen ist. An
einer der Seitenwände ist sogar ein Aufzug.
Der
große Hohlraum in der Mitte wird von einer breiten Säule
ausgefüllt. Um sie herum sind acht der neuen Sessel ringförmig
angebracht und in die Säule integriert. Nochmal acht sind im oberen
Stock. Vier weiter befinden sich an der Rückwand.
Die
Beleuchtung ist weniger hell als in den übrigen Räumlichkeiten, was
der ganzen Szenerie eine gemütliche Atmosphäre verleiht. Es riecht
auch nicht, wie in den übrigen Räumen, nach Medizin und Spülmittel.
Abgesehen von uns ist keiner hier. Ich fühle mich hier wohl.
Debby:
„Whoooa!“ …
Ellyson:
„Das ist ja richtig riesig ...“
Wir
treten ein wenig ehrfürchtig, nacheinander über die Schwelle.
Ungeachtet der gemütlichen Atmosphäre, wirkt die schiere Größe
des ganzen leicht einschüchternd. Als ich zum ersten Mal einen
Testsessel sah, fühlte ich mich fast genau so, aber verglichen
hiermit, verblassen sie.
Sammy:
„Also, das ist mal beeindruckend.“
Marcell:
„Unser Aufenthaltsraum müsste so aussehen.“
Nicolas:
„Warum können nicht alle Räume so gemütlich eingerichtet sein?“
Professor:
„Weil ich bei den Anderen kein Mitspracherecht hatte, was die
Inneneinrichtung betrifft.“
[Er
hat offenbar Geschmack.]
Alina:
„Ich würde zu gerne sehen, wie sie wohnen … “
Professor:
„Haha, du wärst enttäuscht!“
Alina:
„jetzt bin ich erst richtig neugierig ...“
Professor:
„Also gut, jetzt wo wir hier stehen, möchte ich euch sagen … „
Professor
Moldwood holt tief Luft und hält dann eine dezente Ansprache,
darüber wie dankbar er für unsere unermüdliche Mitarbeit ist, das
er sich Freut uns alle zu kennen und so weiter ...
Professor:
„... Schlussendlich wünsche ich euch nicht viel Glück, damit ihr
nicht den Eindruck bekommt, dass ihr auf Glück angewiesen seit. Ich
wünsche euch stattdessen eine gute Reise!“
[Er
war schon immer gut mit Worten.]
Wir
applaudieren respektvoll. [Applaudieren wir nicht gerade uns selbst?]
Fast
zeitgleich öffnen sich erneut die Türen und einige, überrascht
schauende Techniker und Wissenschaftler betreten den Raum. Ihnen
folgt ein leichter Duft von frittiertem, vermutlich kommen sie aus
der Mittagspause.
Professor:
„So, es geht los! Die Sitze sind wie üblich auf euch
voreingestellt. Ihr findet eure Namen vorne drauf. Kommt, jetzt sucht
jeder erst mal seinen Platz!“
Debby:
„Professor, ich sehe meinen Namen nirgends!“
Professor:
„Dann wird wird er wohl oben sein, Sonnenschein.“
Debby:
„Yehea! Ich darf oben sitzen!“
Ellyson:
„Du bist so ein Kind!“
Debby:
„Blllh! ...“
Sie
streckt ihr die Zunge raus.
Andere
wünschen sich viel Glück, während sie auf der Suche nach ihrem
Sitz sind. Man schüttelt sich die Hände, tauscht noch ein paar
letzte ermutigende Worte aus … es herrscht eine unglaublich
harmonische Stimmung. Wir kennen uns alle zwar erst seit zwei
Monaten, aber wenn ich mir all die strahlenden Gesichter so anschaue,
kommt mir das ganze ein wenig vor, wie eine große Familie …
Ich finde meinen
Platz an der Rückwand.
Die neuen Sitze
sehen eher aus wie Kapseln, oder Kokons, als wie Sessel. Während wir
uns bisher einfach nur drauf zu setzen brauchten, muss man in diese
hier hineinsteigen. Im inneren sehe ich die technischen Hilfsmittel.
Unter anderen auch die, die dazu gedacht sind, die Ausscheidungen
aufzunehmen. Der Part, der mir am unangenehmsten an der ganzen Sache
ist.
Martha hat den
Platz neben mir, sie schaut sich ebenso wie ich noch mal um.
Martha:
„Ist fast wie ein Ausflug mit der Familie.“
Sie hat offenbar
das gleiche Gefühl.
Nicolas:
„Familie … hah, das hatte ich auch gerade gedacht!“
Olivia, die
bislang mit dem rücken zu uns stand, dreht sich halb rum und
flüstert:
Olivia:
„Bis auf Ibrahim, der ist adoptiert!“
Wir schauen
instinktiv zu ihm rüber, während er nichtsahnend dasteht und mit
verzogener Mine in das Innere der Kapsel starrt. Wir müssen alle
lachen.
Als alle
eingestiegen und angeschlossen sind, wird ein kurzer Test mit den
neuen Sitzen gemacht. Es geht so schnell das ich nicht mal zeit hatte
mich in der virtuellen Umgebung umzuschauen. Alles scheint bestens zu
funktionieren und meine Vorfreude steigt mit jeder Minute. Wie ein
Kind in einem Vergnügungspark, das in der Warteschlange einer
Achterbahn steht. Jetzt wirkt es absurd, wenn ich daran denke, dass
ich mir noch vor einer Woche ernsthafte Sorgen gemacht hatte, obwohl
ich weiß dass es richtig war.
Professor:
„Sind alle soweit?“
Freudiger Jubel
erschallt, und hinterlässt im großen Raum ein leichtes Echo.
Professor:
„Dann los! ...“
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