Kapitel 14 - "Fast Familie" (unbearbeitet)

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Kapitel 14 – „Fast Familie“


   Der Tag begann heute mit einem leichten Frühstück und anschließender Instruktion im Aufenthaltsraum. Wir wurden darüber belehrt, wie die neuen Sessel funktionieren. Dabei diente der große Bildschirm für eine graphische Präsentation. Danach kamen Erklärungen über den Ablauf des Vortex-Spiels, hauptsächlich technische Details.
Das meiste davon ist für uns vermutlich ohnehin irrelevant, aber ich fand es interessant zu erfahren, wie weit die Entwickler auf die Simulation Einfluss nehmen können. Offenbar liegt ihre Grenze überall dort, wo sie mit den Spielern direkt interagieren würden. Sie können also nur auf subtile weise Änderung am Spiel vornähmen, während die Spieler eingeloggt sind. Anderenfalls würden sie die Balance des Traum-Paradigmas behindern, was für uns unangenehme Folgen haben kann. Es ist ihnen aber möglich zu beobachten. Während wichtigen Ereignissen, wie Spiele-Events oder Boss-Kämpfen, können wir davon ausgehen, dass man uns über die Schulter guckt.
Zum Glück gibt es auch Game-Master innerhalb des Spiels, die einem zu Hilfe eilen, wenn man Probleme hat. [Alles fast wie bei einem normalen Online-Spiel.]
Danach zerstreuten wir uns auf unsere Quartiere, um letzte Vorbereitungen zu treffen.


   Der sanfter Duft von Essen steigt aus der Kantine sogar bis hierher, in den Aufenthaltsraum und erinnert uns daran, dass es Mittagszeit ist. Aber niemand ist hungrig. Die Aufregung vor dem großen Ereignis vertreibt jegliches Hungergefühl, was gut ist, da wir ohnehin gebeten wurden nichts zu essen. Die meisten von uns haben sich heute hier eingefunden, weil wir eh nichts Besseres zu tun haben, während wir auf den Beginn des Betatests warten. Der Raum ist voll und die Atmosphäre hektisch und angespannt. Alle hier sind in heller Aufregung, selbst die die sich sonst für Gewöhnlich gleichgültig zeigen.
Harry, Marcell und Alina stehen am Fenster und unterhalten sich energisch, man kann aber nicht sagen worüber. Harry macht sich nebenbei Notizen in seinem Block. [Sehr Altmodisch.] Man hat ihm nicht gestattet, Interviews vor Abschluss der Testphase zu nähmen, aber er tut es trotzdem heimlich. Von uns stört es keinen, da er das nötige Feingefühl hat, um nicht aufdringlich zu sein.
Der Krähen-Schwestern (Sammys neueste Spitzname für sie) stehen draußen, etwas von der Tür entfernt. Sie schauen beim Reden immer wieder zu zu uns rüber, offenbar lästern sie über jemanden.
Selbst die immer entspannte Martha ist heute sichtlich aufgeregt. Offenbar haben wir sie mit unserer Euphorie angesteckt. Sie, Raul und Elly belagern die Couch und besprechen ebenfalls etwas.
Lindsay sitzt an ihrem gewohnten Platz, sie war heute vor allen anderen hier. Neben ihr steht Tamirat. Die beiden scheinen einen entspannten Wortwechsel zu führen, wobei überwiegend Tamirat spricht. [Ich frage mich worüber sie reden.]
Es sind auch Leute da, die man nur selten zu Gesicht bekommt, wie „Ibrahim Roseberg”. Ein junger, Israelischer Geschäftsmann, der von seinem Fater ins Program gebracht wurde um aus erster Hand zu sehen, ob die neue Technologie kommerzielles Potenzial hat. Ein hochnäsiger, arroganter und eingebildeter Schnösel, keiner mag ihn. Ich persönlich habe kein Problem mit ihm, aber er scheint ein Problem mit allen anderen zu haben. Selbst jetzt siet er so aus als würde er alle im Raum verachten. [Naja, fast alle ...] Die einzige mit der er sich zu verstehen scheint is Linday, die ihm aber nicht weniger die kalte Schulter zeigt, als allen Anderen. [Vielleicht sieht er sie ja als gleichgestellt, oder sowas ...]
Mit mir am Tisch sitzen: Sammy, Collin, Gerald und Nina. Wir sind vermutlich die lautesten hier. Collin und Sammy waren bestürtzt, als sie heute morgen erfuhren, das für die anderen sechshundertfünfzig Spieletester, der Betatest bereits vor vier Tagen begonnen hat. Da diese Leute direkt von den Entwicklern von “Vortex” angehäuert wurden und sich weder über das U.T.O.P.I.A. System einlogen, noch sonst irgendwas mit uns zutun haben, sind sie auch nicht an unsere Termine gebunden. Für unsere beiden Pro-Gamer hier, geht es nun darum, wie man die Anderen am schnellsten einholt.
Nicolas: “Ich verstehe nicht, worüber ihr euch da Sorgen macht. Ich sehe das ganz simpel: Die werden sich bloss über die reguläre Hardware einlogen, das heisst maximal sechseinhalb Stunden Am Tag, während wir rund um die Uhr eingeloggt sind. Selbst ich, mit meiner entspannten Spielweise, werde sie früher oder später überholen!”
Collin: „Du verstehst das nicht, das sind Profis! ...“
Nicolas: „Na und? Du doch auch!“
Ich appelliere an seinen Stolz.
Collin: „Nein, man. Das ist 'ne andere Liga! Die werden richtig dafür bezahlt!“
Nicolas: „Bezahlt werden die, um das Spiel zu testen, nicht um zu power-leveln!“
Sammy: „Darum geht es nicht. Wenn so ein Spiel auf den Markt kommt, dann gibt es immer haufenweise was zu entdecken. Wo, welche Zutaten für Tränke zu finden sind, welche Gegner die besten Items abwerfen, versteckte Quest, Angriffsverhalten von Endgegnern … all so'n Zeug.“
Nicolas: „Und wo ist das Problem? Ist ja nicht so, dass die Sachen weg sind wenn sie jemand findet, das respawnt doch alles.“
Sammy: „Ja, aber wenn du so was als erstes raus findest, dann kannst du dir damit einen Namen machen.“
Collin: „Verstehst du? Wer sich eine goldene Nase verdienen konnte, hat das schon getan.“
Sammy: „DAS einzuholen ist schwierig. Es ist nicht bloß das level ...“
Collin: „Vor allem, wo die Anfangsgebiete jetzt schon abgegrast sind.“
Nicolas: „Ah, jetzt verstehe ich. Die entdeckten Sachen verschwinden zwar nicht, aber „entdeckt werden“ können sie nur ein mal ...“
Collin: „Genau!“
Collin ist sichtlich aufgeregter als alle anderen. Er wirkt fast so, als wäre er auf Entzug.
Nicolas: „Und was ist dann euer Plan?“
Collin: „Wir müssen eine gut ausgewogene Gruppe bilden und die ganzen Anfänger-Quests überspringen. Wir machen nur die wichtigsten, das erspart uns eine Menge Zeit! Machst du mit?“
Nicolas: „Ich? Nee, lass mal … ich hab noch nie vorher ein MMOVRPG gespielt, ich wäre euch nur ein Klotz am Bein!“
[Außerdem will ich da nicht einfach wie ein Irrer durch-hetzen, ich will es genießen.]
Ich blicke zu dem ungleichen Paar am Kaffeetisch und stelle sicher das keiner von beiden gerade spricht...
Nicolas: „ ... Aber nehmt doch Lindsay mit, die kann das bestimmt voll gut!“
Lindsays blick ist nicht ganz so überrascht wie sonst, offenbar gewöhnt sie sich langsam daran ohne Vorwarnung von mir in eine Unterhaltung rein gezogen zu werden. Vielleicht mache ich es einfach zu oft … [Aber es macht Spaß! ...]
Sammy: „Uh, die gefürchtete Eisprinzessin!“
Sie reagiert gelassen.
Lindsay: „Legt euch nicht mit mir an, ich friere euch alle ein ...“
Ihre Stimme ist kühl aber nicht unfreundlich.
[Kommt es mir nur so vor, oder gefällt ihr ihr neuer Titel?] Davon abgesehen ist sie heute nicht ganz so abweisend wie sonst. Oder liegt das bloß an der ungewöhnlich heiteren Atmosphäre.
Alina: „Professor Moldwood!“
Im Raum wird es ruhig und alle schauen in Richtung Tür, wo der der alte Mann mit strahlenden Lächeln steht.
Professor: „Hallo, alle miteinander!“
Sammy: „Wie sieht es aus, Prof', ist schon alles bereit?“
Professor: „Oh, es ist schon seit zwei Stunden bereit, seither haben wir die Zeit genutzt, um alles nochmal doppelt und dreifach zu überprüfen.“
Die sind vor dem Zeitplan fertig geworden, dabei hatte ich erwartet das sich alles verspäten würde. Ich bin ehrlich überrascht.
Harry: „Und, können wir los?“
Professor: „Wir haben von allen Stellen grünes Licht bekommen.“
Collin: „Worauf warten wir dann noch?!“
Professor: „In der Tat, wir können loslegen!“
Er verkündet es freudestrahlend. Es ist nicht zu übersehen, das er mindestens genau so aufgeregt ist, wie wir. Leichter Jubel und Beifall erschallen im Raum, und mir kommt es vor, als würde uns eine Reise ins Weltall bevorstehen.


Der Weg durch die Gänge des großen Laborkomplexes fühlt sich heute fremd an, zum Einen weil hier überall noch die alten Gerätschaften im weg stehen, zum Anderen weil wir nicht zu den Üblichen Räumen unterwegs sind. Der Professor führt dabei unsere Gruppe an, wie ein Fremdenführer. Ihm fehlt dafür nur noch ein langes Fähnchen in der Hand.
Debby, die ganz vorne geht, unterhält sich freudestrahlend mit dem alten Mann. Von uns allen ist sie dem Professor am ehesten aufgeschlossen, man könnte sogar sagen „fürsorglich“. Sie fragt ihn gelegentlich ob er ausreichend schläft, oder ob er an dem Tag schon was gegessen hat. Wüsste ich es nicht besser, würde ich vermuten, dass sie seine Enkeltochter ist, aber der Professor war nie verheiratet. Er widmete sein Leben stattdessen der Forschung … oder vielleicht auch eher gerade deswegen.
Als sich die großen Türen, mit den Warnschildern drauf, vor uns öffnen, kann ich das, was dahinter folgt, kaum als Raum beschreiben. Es ist ein Saal! Die Wände sind dekoriert mit Bildschirmen, Bedienungskonsolen und anderen technischen Geräten. Die Decke ist ungewöhnlich hoch und erlaubt ein zweites Stockwerk, das aber nur aus schmalen Gehwegen besteht und mit Geländern versehen ist. An einer der Seitenwände ist sogar ein Aufzug.
Der große Hohlraum in der Mitte wird von einer breiten Säule ausgefüllt. Um sie herum sind acht der neuen Sessel ringförmig angebracht und in die Säule integriert. Nochmal acht sind im oberen Stock. Vier weiter befinden sich an der Rückwand.
Die Beleuchtung ist weniger hell als in den übrigen Räumlichkeiten, was der ganzen Szenerie eine gemütliche Atmosphäre verleiht. Es riecht auch nicht, wie in den übrigen Räumen, nach Medizin und Spülmittel. Abgesehen von uns ist keiner hier. Ich fühle mich hier wohl.
Debby: „Whoooa!“ …
Ellyson: „Das ist ja richtig riesig ...“
Wir treten ein wenig ehrfürchtig, nacheinander über die Schwelle. Ungeachtet der gemütlichen Atmosphäre, wirkt die schiere Größe des ganzen leicht einschüchternd. Als ich zum ersten Mal einen Testsessel sah, fühlte ich mich fast genau so, aber verglichen hiermit, verblassen sie.
Sammy: „Also, das ist mal beeindruckend.“
Marcell: „Unser Aufenthaltsraum müsste so aussehen.“
Nicolas: „Warum können nicht alle Räume so gemütlich eingerichtet sein?“
Professor: „Weil ich bei den Anderen kein Mitspracherecht hatte, was die Inneneinrichtung betrifft.“
[Er hat offenbar Geschmack.]
Alina: „Ich würde zu gerne sehen, wie sie wohnen … “
Professor: „Haha, du wärst enttäuscht!“
Alina: „jetzt bin ich erst richtig neugierig ...“
Professor: „Also gut, jetzt wo wir hier stehen, möchte ich euch sagen … „
Professor Moldwood holt tief Luft und hält dann eine dezente Ansprache, darüber wie dankbar er für unsere unermüdliche Mitarbeit ist, das er sich Freut uns alle zu kennen und so weiter ...
Professor: „... Schlussendlich wünsche ich euch nicht viel Glück, damit ihr nicht den Eindruck bekommt, dass ihr auf Glück angewiesen seit. Ich wünsche euch stattdessen eine gute Reise!“
[Er war schon immer gut mit Worten.]
Wir applaudieren respektvoll. [Applaudieren wir nicht gerade uns selbst?]
Fast zeitgleich öffnen sich erneut die Türen und einige, überrascht schauende Techniker und Wissenschaftler betreten den Raum. Ihnen folgt ein leichter Duft von frittiertem, vermutlich kommen sie aus der Mittagspause.
Professor: „So, es geht los! Die Sitze sind wie üblich auf euch voreingestellt. Ihr findet eure Namen vorne drauf. Kommt, jetzt sucht jeder erst mal seinen Platz!“
Debby: „Professor, ich sehe meinen Namen nirgends!“
Professor: „Dann wird wird er wohl oben sein, Sonnenschein.“
Debby: „Yehea! Ich darf oben sitzen!“
Ellyson: „Du bist so ein Kind!“
Debby: „Blllh! ...“
Sie streckt ihr die Zunge raus.
Andere wünschen sich viel Glück, während sie auf der Suche nach ihrem Sitz sind. Man schüttelt sich die Hände, tauscht noch ein paar letzte ermutigende Worte aus … es herrscht eine unglaublich harmonische Stimmung. Wir kennen uns alle zwar erst seit zwei Monaten, aber wenn ich mir all die strahlenden Gesichter so anschaue, kommt mir das ganze ein wenig vor, wie eine große Familie …
Ich finde meinen Platz an der Rückwand.
Die neuen Sitze sehen eher aus wie Kapseln, oder Kokons, als wie Sessel. Während wir uns bisher einfach nur drauf zu setzen brauchten, muss man in diese hier hineinsteigen. Im inneren sehe ich die technischen Hilfsmittel. Unter anderen auch die, die dazu gedacht sind, die Ausscheidungen aufzunehmen. Der Part, der mir am unangenehmsten an der ganzen Sache ist.
Martha hat den Platz neben mir, sie schaut sich ebenso wie ich noch mal um.
Martha: „Ist fast wie ein Ausflug mit der Familie.“
Sie hat offenbar das gleiche Gefühl.
Nicolas: „Familie … hah, das hatte ich auch gerade gedacht!“
Olivia, die bislang mit dem rücken zu uns stand, dreht sich halb rum und flüstert:
Olivia: „Bis auf Ibrahim, der ist adoptiert!“
Wir schauen instinktiv zu ihm rüber, während er nichtsahnend dasteht und mit verzogener Mine in das Innere der Kapsel starrt. Wir müssen alle lachen.
Als alle eingestiegen und angeschlossen sind, wird ein kurzer Test mit den neuen Sitzen gemacht. Es geht so schnell das ich nicht mal zeit hatte mich in der virtuellen Umgebung umzuschauen. Alles scheint bestens zu funktionieren und meine Vorfreude steigt mit jeder Minute. Wie ein Kind in einem Vergnügungspark, das in der Warteschlange einer Achterbahn steht. Jetzt wirkt es absurd, wenn ich daran denke, dass ich mir noch vor einer Woche ernsthafte Sorgen gemacht hatte, obwohl ich weiß dass es richtig war.
Professor: „Sind alle soweit?“
Freudiger Jubel erschallt, und hinterlässt im großen Raum ein leichtes Echo.
Professor: „Dann los! ...“

Jetzt wird es beginnen, mein persönliches Abenteuer ...

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