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Kapitel
8 - “Digitale Kunst”
Als
ich meine Augen wieder öffne, sehe ich einen Mann, Mitte 30, mit
asiatischen Gesichtszügen vor uns stehen, der in entspannter Haltung
geduldig darauf wartet, dass alle aufwachen. Offenbar hat er etwas
Wichtiges mitzuteilen. Er trägt eine schmale Brille und einen
Laborkittel, wie sie Besuchern oft ausgeteilt werden, darunter seine
normale Straßenkleidung. Ich glaube sein Gesicht schon mal gesehen
zu haben, erinnere mich aber nicht mehr wo.
Eine
gewisse positive Aufregung ist deutlich im Raum spürbar. Sowohl die
Tester als auch die Techniker scheinen mit dem Probelauf zufrieden zu
sein. Während die Anderen noch die Helme abgenommen bekommen, neigt
sich Alina zu mir rüber und sagt halblaut, als ob es ein Geheimnis
wäre:
Alina:
"Das war der Wahnsinn!"
Das
Strahlen in ihren Augen ist dabei das eines Kindes, das zu
Weihnachten ein Pony geschenkt bekommen hat. Während ich noch
überlege was ich erwidern soll, kommt Debby mir zuvor:
Debby:
"Professor, das war unglaublich! Das wirkte alles so ... so
echt! Das Wasser war richtig kalt und der Geruch von Wald und Pilzen
... !"
Gerald:
"Allerdings! Nicht bloß realistisch, sondern auch sehr
atmosphärisch, man konnte die Umgebung praktisch spüren. Mein Kompliment an den Map-Designer"
Auf
den Lippen des Unbekannten erscheint ein zufriedenes Lächeln.
Professor:
"Na-Na, ihr dürft euer ganzes Lob gerne an Mr. Matsugami wenden
... "
Er
deutet auf den unbekannten Mann, der bislang noch nichts gesagt hat.
Der
Mann, dieser "Matsugami" ist mir auf Anhieb sympathisch.
Kommt das von seiner ruhigen, entspannten Art, oder fühle ich mich
ihm verbunden weil er auch Asiate ist? Ich kann es nicht sagen.
Matsugami:
"Guten Tag, mein Name ist "Jonko Matsugami", und es
ist schön euch kennen zu lernen. Ihr könnt mich gerne einfach Jonko
nennen."
Sein
Akzent ist stark asiatisch, aber nicht Japanisch. [Koreanisch
vielleicht?]
Er
deutet eine leichte formelle Verbeugung an, während er weiter redet:
Matsugami:
"Es freut mich zu hören, dass euch unser Spiel gefällt."
Professor:
"Mr. Matsugami hier ist der Chef-Entwickler des Vortex-Spiels."
Gerald:
"Sehr erfreut."
Wir
begrüßen uns förmlich.
Jetzt
fällt mir auch wieder ein, woher ich ihn kenne, sein Gesicht kam
einige Male in den Präsentations-Videos des Spiels vor, die ich zuvor in massen konsumiert habe.
Was
folgt, ist eine längere Erklärung von Mr. Matsugami über die
Eigenarten des Spiels, hauptsächlich darüber "wie" man es
Spielt. Also Steuerung von Menüs, wie man sich in der Spielwelt
zurechtfindet, wie man bei Schwierigkeiten Administratoren
kontaktiert und, für ihn ganz wichtig, wie man Spielfehler berichtet
(So genannte "Bug-Reports"). Zuletzt weist er uns darauf
hin, dass das Spiel noch im Beta-Status ist und gelegentlich
Spiel-Updates installiert werden müssten. Für diese Zeit werden wir
aber nicht aus der VR auftauchen, sondern kommen in einen
Warte-Bereich, separat vom Hauptspiel.
Für
uns neu ist auch die Möglichkeit uns selbstständig auszuloggen. Das
ist aber nicht so wie beim Not-aus, wovon uns der Professor erzählt
hat das man immer betätigen kann. Beim regulären ausloggen muss man
am besten einen Ruhebereich im Spiel Finden. Ruhebereiche sind immer
als solche zu erkennen, zum Beispiel eine Taverne, oder das eigene
virtuelle Heim. Man kann es auch sonst überall machen, aber dann
würde sich der herrenlose Avatar selber auf dem kürzesten Weg zur
nächsten Ruhezone begeben, auch durch gefährliches Gebiet hindurch.
Der Spielcharakter ist in diesem Zustand den Angriffen durch Gegner
und anderer Spieler völlig ausgeliefert. Der größte Unterschied
ist aber, dass man beim Not-aus selbstständig aufwacht während man
beim regulären ausloggen eine Anfrage sendet, um geweckt zu werden.
Nach
seinem viertelstündigen Vortrag ergreift der Professor wieder das
Wort.
Professor:
"Wenn niemand mehr eine wichtige Frage hat, würden wir gern mit
dem nächsten Schritt beginnen."
Niemand
hat Einwände.
Professor:
"Gut. Diesmal taucht ihr für 4 Stunden ein."
Ich
blicke auf die Uhr, es ist 15:17 Uhr.
Ellyson:
"Das heißt, zum Abendessen, schaffen wir es heute nicht."
Debby:
"Ooh, aber heute gibt es Spagetti ..."
Sie
sagt es mit gespielter Enttäuschung.
Professor:
"Keine Sorge Sonnenschein, ich habe mit der Küche gesprochen,
ihr müsst heute nicht hungrig schlafen gehen."
Debra
ist nicht die Einzige die sichtlich erleichtert darüber ist.
Professor:
"Ich möchte euch bitten, nach den 4 Stunden selbst eine Anfrage
zum Ausloggen zu senden. Nur um ganz sicher zu gehen, dass alles
einwandfrei funktioniert."
Ich
habe den Eindruck, dass das eher dazu dienen soll, dass wir Tester
uns sicher fühlen sollen und in der Simulation keine Panikattacke
bekommen, weil wir uns eingesperrt fühlen. Dieses "ich kann
immer hier raus" würde beruhigend wirken.
Man
legt uns die schweren Helme wieder an und der Professor wünscht uns
viel Vergnügen. Das Letzte was ich sehe, bevor meine Augen sich wie
von selbst schließen, ist das zufriedene Lächeln von Mr. Matsugami.
Es ist das Lächeln eines Spielzeugmachers, der mit Freude zuschaut
wie Kinder mit seinen Kreationen Spaß haben.
Der farbenfrohe, nächtliche Himmel erstreckt sich wieder über mir.
Ich stehe wieder an demselben See, diesmal eindeutig an einer anderen
Stelle. Hier sind weniger Bäume und der Strand ist nicht so steinig.
Die
kühle Brise umschmeichelt meine Haut unter dem luftig geschnittenen
Hemd, das mein Avatar trägt. Wie kann eine Simulation so real
wirken? Ich kenne die Antwort: [Das Traum Paradigma]. Im Grunde sind
das alles nur schlichte 3D Modelle und Datenpakete. In den
Werbevideos kann man, obwohl sie grafisch aufpoliert sind, sehen, wie
die Spielwelt wirklich aussieht; klumpige Steine, phantasielose
Pflanzen, ungeschickte Beleuchtung, es wirkt wie ein drittklassiges
Spiel. Sie können es nicht so darstellen, wie es für den Spieler
wirkt, weil erst das Traum-Paradigma des Benutzers dafür sorgt, dass
die Spielwelt real aussieht. Sowas lässt sich nicht mit der Kamera
festhalten ... das muss man erleben!
Ich
mache ein paar Schritte aus den Büschen heraus, bis die Baumkronen
mir nicht mehr den Blick auf den Nachthimmel verdecken und genieße
einige Momente lang das Panorama. Die schiere Unzahl an leuchtenden
Punkten erinnert mich daran, wie meine Schwester mal versehentlich
ihr Glitzer über meinen alten Schreibtisch verschüttet hat. So
gründlich wie ich ihn danach auch gewischt habe, er hat auch nach
Monaten noch geglitzert. Diese Erinnerung gibt dem Anblick, der sich
mir bietet, etwas Vertrautes.
Wann
habe ich in der realen Welt eigentlich das letzte Mal den
Sternenhimmel betrachtet? ... [lange her ...]
Hinter
mir nähern sich langsam Schritte. Als ich mich umschaue, steht
hinter mir ein Mann, der meinem eigenen derzeitigen Erscheinungsbild
nicht unähnlich ist. Durchschnittliche Größe, durchschnittliche
Statur, durchschnittliches Gesicht ... Blonde Haare. [Welche
Haarfarbe hat eigentlich mein Avatar?] Ich hatte ihn zwar vorhin kurz
im Menü gesehen, erinnere mich aber nicht mehr. Das kitzelnde Gefühl
der Neugier fordert mich auf nachzusehen, aber ich verkneife es mir
und widme meine Aufmerksamkeit wieder dem Fremden. Oder besser gesagt
dem Unbekannten, denn fremd ist er mir sicherlich nicht. [Wer er wohl
ist?]
???:
"Na, analysierst du wieder?"
Es
ist eindeutig Marcell. Er hatte schon in den ersten Wochen bemerkt,
dass ich eine analytische Natur habe, und sagte in einem Gespräch
mal, dass manche Dinge nicht analysiert werden sollten. Stattdessen
sollte man sie einfach bewundern, für das was sie sind. Obwohl er
das damals einfach in die Gruppe gesagt hat, bin ich mir immer noch
sicher, dass er speziell mich gemeint hat.
Nicolas:
"Ich bewundere."
Marcell:
"Ah, du hast zugehört."
Er
schmunzelt und blickt nach oben.
Nicolas:
"Echt schön gemacht..."
Marcell:
"Nicht bloß schön ... inspirierend!"
Seine
Haltung ist wie immer erhaben. Er hat diese belehrende, autoritäre,
leicht arrogante Art, was den Umgang mit ihm manchmal erschwert.
Generell verträgt er es nicht, wenn jemand eine andere Meinung hat
als er. Wenn ihm die Argumente in einer Diskussion ausgehen,
verkündet er, dass er nicht verstanden wird und wechselt das Thema.
[Woran
er mich wohl erkannt hat?]
Marcell:
"Das sieht aus ... "
Er
macht eine Pause und setzt dann noch mal an, während er mit
ausladender Geste auf den Himmel deutet.
Marcell:
"... Das sieht aus, als hätte ein Maler seine Pinsel daran
saubergemacht."
Ich
lasse den Vergleich auf mich wirken. Er lächelt verstohlen.
Marcell:
"Das erinnert mich an einen Kollegen, den ich noch aus der
Studienzeit kenne. Der hatte ein missglücktes Gemälde, an dem er
seine Pinsel immer abgestrichen hat. Irgendwann kam ein
Kunstliebhaber in sein Atelier, sah das wild übermalte Gemälde und
fragte was er dafür haben wollte."
Nicolas:
"Im ernst?"
Marcell:
"Ja!"
Wir
lachen beide.
Nicolas:
"Und, hat er es verkauft?"
Marcell:
"Ja, hat um die fünf Riesen dafür bekommen. Danach hat er
überall damit angegeben, von wegen, dass sogar sein Müll wertvoll
ist."
Nicolas:
"Vom Schicksal auf den Arsch geküsst!"
Wir
lachen wieder.
Marcell:
"Naja ... jetzt ist er obdachlos."
Ich
wische mir das heitere grinsen aus dem Gesicht.
Nicolas:
"Echt? ... Was ist passiert?"
Marcell:
"Frauen, Drogen, Glücksspiel, das ganze Programm. Er konnte
weder mit Geld, noch mit Ruhm umgehen."
Jetzt
hinterlässt die ganze Geschichte einen bitteren Nachgeschmack,
allmählich bereue ich es, gelacht zu haben.
Nicolas:
"Dann ist das ja eher eine tragische Geschichte."
Marcell:
"Ach, wenn man eine Geschichte bis zum Ende kennt, sind sie doch
fast alle tragisch."
Ich
bin mir nicht sicher ob ich ihm zustimmen kann und wechsle lieber das
Thema.
Nicolas:
"So, wir haben vier Stunden ... was tun wir so lange?"
Marcell:
"Den Leuten draußen ist das glaube ich ziemlich egal, so lange
wir in der Simulation bleiben."
Wir
entscheiden uns, uns am Ufer entlang umzuschauen, ob es hier was zu
entdecken gibt. Rund um den See zeigen sich nach und nach Grüppchen
von Leuten, die, ebenso wie wir, mit katzenhafter Neugier ihre
Umgebung inspizieren. Manche riechen an den fremden Blumen, manche
plantschen im Wasser und manche ... stehen einfach nur da,
überwältigt von der Echtheit einer künstlichen Welt.
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